Früherer VW-Chef Winterkorn: Straflos vor Gericht
Kommende Woche tritt Martin Winterkorn eine Reise an, von der manche Rechtsanwälte sagen, sie sei das Äußerste, was man dem 76 Jahre alten Ex-Manager zumuten kann. Von seinem Wohnort im Münchner Nobelviertel Bogenhausen geht es nach Braunschweig, wo der frühere Volkswagen-Chef im Dieselprozess der Kapitalanleger als Zeuge aussagen soll. Winterkorns Gesundheit ist angeschlagen. Sein Strafprozess wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs hat bis heute nicht begonnen, weil er sich von drei Hüftoperationen erholen sollte.
Im Braunschweiger Zivilprozess will das Oberlandesgericht ihn jetzt am Mittwoch und Donnerstag vernehmen, unterbrochen von vielen Pausen. Es geht um viel Geld. Rund 4,4 Milliarden Euro Schadenersatz verlangen Anleger, weil VW und sein Großaktionär Porsche SE die Märkte nicht rechtzeitig über die Abgasmanipulationen informiert haben sollen.
Die Hoffnung, Winterkorn auch als Angeklagten vor Gericht zu kriegen, gibt Niedersachsens Justiz nicht auf. Von September an könnte ein Strafverfahren gegen ihn beginnen, neun Jahre nachdem US-Behörden auffliegen ließen, dass VW die Messwerte für gesundheitsschädliche Stickoxide (NOx) manipuliert hat. Der Fall Winterkorn wirft damit ein Schlaglicht auf Probleme in der Aufarbeitung eines der größten Wirtschaftsskandale der Nachkriegszeit.
Die Prozesse laufen quälend langsam
Während Amerika schnell reagierte, Geldstrafen verhängte und Verantwortliche ins Gefängnis brachte, laufen die Prozesse hierzulande quälend langsam. Vor dem Landgericht München wurde zwei Jahre verhandelt, bevor sich der frühere Audi-Chef Rupert Stadler und die Staatsanwaltschaft auf einen Deal einigten, den sie dann wieder platzen ließen. Jetzt geht der Fall zum Bundesgerichtshof. In Braunschweig hängen „NOx-Verfahren“ gegen Dutzende Beschuldigte in der Warteschleife. Im ersten Prozess soll im Sommer ein Urteil fallen. Andere können sich bis ins nächste Jahrzehnt hinziehen.
Personalmangel der Justiz, gepaart mit einer Materie, die oft nur Ingenieure verstehen: All das bremst auch den Braunschweiger Anlegerprozess. Schon Mitte 2016 war das Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) angelaufen. Es soll Streitfragen durchexerzieren, die dann für Tausende Kläger als geklärt gelten können. Über Jahre wanderten Schriftsätze herum, bevor Corona für eine Vollbremsung sorgte. Danach begann eine Beweisaufnahme, in der 86 Zeugen aufmarschieren sollen. Oft gleicht die Befragung einer Farce. Denn frühere VW-Manager wie Herbert Diess oder Matthias Müller waschen ihre Hände in Unschuld, während es der Klägerseite um die Anwaltskanzlei Tilp an belastendem Material fehlt.
Schlüsselfigur im Abgasskandal
Winterkorn ist die Schlüsselfigur im Abgasskandal. Er war der bestbezahlte Manager der Republik, ließ sich als Führungskraft inszenieren, die jedes technische Detail im Konzern kannte. In seiner Amtszeit fielen all jene Beschlüsse, die den Weg für den Skandal ebneten, vom Wachstumsplan in Amerika und der Abschalteinrichtung bis zur Verschleierungstaktik gegenüber US-Behörden.
Die Schuld sieht Winterkorn in den Tiefen der Motorenentwicklung. Er selbst will erst im September 2015 von den Manipulationen erfahren haben, kurz bevor der Skandal ihn aus dem Amt fegte. Dabei gab es Hinweise, die Winterkorn und seine Manager hätten sehen können, wenn sie hingeschaut hätten.
Die Strafjustiz versucht weiter, ihm den Prozess zu machen. Das ist dringend nötig. Denn wenn seine persönliche Verantwortung nicht im Strafverfahren aufgearbeitet werden kann, untergräbt das das Vertrauen in den Rechtsstaat. Gerade erst hat das Landgericht Braunschweig ein Verfahren wegen Marktmanipulation gegen ihn wieder aufgenommen, es ist nun mit dem Betrugsprozess bei einer Strafkammer gebündelt. Ein ärztliches Attest bescheinigt, dass Winterkorn von Herbst an verhandlungsfähig sein dürfte. Über alles Weitere will das Gericht im ersten Quartal entscheiden.
Um Wirtschaftsskandale besser aufklären zu können, sind Reformen nötig. Ermittlungsbehörden brauchen mehr Personal und müssen besser kooperieren, statt in Stuttgart, München oder Braunschweig an gleichen Themen zu bohren. Auch die Überarbeitung des KapMuG-Verfahrens ist überfällig, um das Instrument praxistauglicher zu machen. Die Einführung eines Unternehmensstrafrechts könnte auch dazu führen, dass Konzerne für Vergehen ihrer Mitarbeiter stärker finanziell zur Verantwortung gezogen werden. Die jetzige Struktur, das zeigen Fälle wie der VW-Skandal, bietet zu viele Wege, um sich aus der Affäre zu ziehen.