Mützenich und die SPD: Alle stehen hinter ihm
Der Raum 6556 im Jakob-Kaiser-Haus ist einer der spektakulärsten in den Bürokomplexen, die das Reichstagsgebäude umschließen. Die nördliche und die westliche Wand steigen schräg nach oben und laufen in der Spitze wie eine Pyramide zusammen. Sie sind komplett aus Glas und geben den Blick auf das mächtige Parlamentsgebäude frei. In diesem hat in der vorigen Woche der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich seine für einiges Aufsehen sorgenden Worte gesprochen, es solle doch auch über das Einfrieren des russischen Krieges gegen die Ukraine nachgedacht werden. Wie finden sie das in der Fraktion?
Der Raum 6556 liefert die Klarheit, die seine Glaswände versprechen. Matthias Miersch, Wiebke Esdar und Tim Klüssendorf sitzen nebeneinander, die Sprecher der Parlamentarischen Linken (PL) in der SPD-Bundestagsfraktion. Etwa die Hälfte der Abgeordneten der SPD-Fraktion gehört zur PL. Mützenich ist einer der prominentesten von ihnen. „Wir stehen voll hinter der Auffassung von Rolf Mützenich“, sagt Miersch. Gerichtet an diejenigen, die das als Anlauf der Genossen zu einem Wahlkampf im Namen des Friedens bezeichnen, sagt er: „Hier der SPD Wahlkampftaktik zu unterstellen, können wir nur mit aller Schärfe zurückweisen.“ Die Auffassung, dass es auch einen diplomatischen Weg geben müsse, liege „in den Genen“ der SPD. Das habe er immer gesagt.
Nur über Waffen zu sprechen genüge nicht. Diese Äußerungen von Mützenich als Zeichen auszulegen, dass die SPD „russlandfreundlich“ sei, weist Miersch zurück. Er vernehme jedenfalls keine Stimmen in der SPD, die sich gegen den Begriff „einfrieren“ gewandt hätten. Von seinen Grundüberzeugungen her liege auch Boris Pistorius ganz auf dieser Linie. Tatsächlich hatte sich der Verteidigungsminister beeilt, eine Russlandfreundlichkeit seiner Partei zurückzuweisen, nachdem er vorher Zweifel am Begriff des Einfrierens geäußert hatte. Miersch nennt es „abenteuerlich“, die Haltung „zu verhetzen“, dass es irgendwann auch einen diplomatischen Aspekt geben müsse.
Die Wähler wünschen sich Frieden
Nachdem Matthias Miersch gesagt hat, er nehme die Stimmung in den Wahlkreisen so wahr, dass dort die Linie von Mützenich unterstützt werde, berichtet Wiebke Esdar, was sie bei Gesprächen mit den Wählern erlebt. Immer öfter begegne ihr dort der Wunsch, nach den vielen Debatten über die Waffen auch über den Frieden zu sprechen. Es gehöre zur Demokratie, nicht immer nur über Waffensysteme zu sprechen, sagt Esdar.
Nils Schmid, der außenpolitische Sprecher der Fraktion, sagt es im Fernsehsender Phoenix so: „Ich glaube, dass in der jetzigen Situation die einfache Nummer, wir hängen die Friedensfahne raus, überhaupt nicht verfangen würde.“ Jedenfalls würde das bei einer Regierungspartei nicht funktionieren. Man sehe doch, auch in der Bevölkerung, dass sich das Bild von Russland und dessen Präsident Wladimir Putin verschoben habe.
Keine Kritik von Scholz
Mützenich muss also nicht befürchten, dass ihm aus den eigenen Reihen Widerstand entgegenschlägt. In der Fraktionssitzung am Dienstag hatte er die Angelegenheit gar nicht mehr angesprochen, wird in Teilnehmerkreisen berichtet. Der Bundeskanzler habe die Haltung Deutschlands noch einmal deutlich gemacht. Das hat er auch am Mittwoch im Plenum getan. Dabei ließ er, wie bei all seinen Auftritten, keinen Zweifel, dass Berlin die Ukraine so lange unterstützen werde, wie das erforderlich sei. Scholz kritisiert Mützenichs Wortwahl nicht, allerdings wiederholt er auch nicht, was der Fraktionsvorsitzende gesagt hat.
Auch Rolf Mützenich stellt die Hilfe für die Ukraine nicht infrage. Er bemüht sich aber schon lange, eine zweite Erzählung daneben zu platzieren. Vor allem ist das die Mahnung, die Ausgaben für soziale Zwecke dürften nicht unter der Ukraine-Hilfe leiden. Frühzeitig hat Mützenich auch über das Erfordernis gesprochen, die Diplomatie in dem Konflikt nicht zu vergessen.
Seine Bundestagsrede am Donnerstag der vorigen Woche zielte vom ersten Satz an darauf, die Diskussion über den Krieg nicht auf das Für und Wider der Lieferung von Waffensystemen zu beschränken. Dann sagte er: „Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“ Manchmal werde es als „Schandfleck“ bezeichnet, sich mit dieser Frage überhaupt zu beschäftigen. Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle Beifall bei der SPD, der Linken, und dem Bündnis Sahra Wagenknecht sowie bei Abgeordneten der AfD. Von Applaus bei den Koalitionspartnern Grüne und FDP keine Spur.
„In den Friedenswissenschaften ausgebildet“
Rolf Mützenich kennt die SPD in- und auswendig. Der 1959 geborene Kölner wurde bereits 1975 Parteimitglied, ist seit 2002 Abgeordneter des Bundestages und seit fünf Jahren Vorsitzender der Fraktion. Er wirkt nicht amtsmüde und erweckt den Eindruck, die für ihn so schwierige Kehrtwende nicht nur seiner Partei, sondern der deutschen Politik überhaupt, nach Jahrzehnten größter Zurückhaltung nun doch Waffen in ein Kriegsgebiet zu liefern, zumindest mitgestalten zu wollen. Von seinen Einfrieräußerungen nimmt er nichts zurück, im Gegenteil.
Der Sozialdemokrat, der an der Universität Bremen mit einer Arbeit über „Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik – historische Erfahrungen, Rahmenbedingungen, Perspektiven“ promoviert wurde, scheint nach einer ersten Phase der Verunsicherung nach dem Angriff Putins auf die Ukraine dafür kämpfen zu wollen, dass nicht all seine Überzeugungen gegenstandslos werden.
Er nahm die Äußerungen zum Einfrieren nicht nur nicht zurück, sondern sagte ein paar Tage später der „Neuen Westfälischen“: „Ich bin in den Sozial- und Friedenswissenschaften ausgebildet. Dort wird das Einfrieren als Begrifflichkeit genutzt, um in einer besonderen Situation zeitlich befristete, lokale Waffenruhen und humanitäre Feuerpausen zu ermöglichen.“
Ruhig im Auge des Sturms
Im Auge des politischen Orkans, der seit längerem über die Bundesregierung wegen ständiger Streiterei hinwegfegt, gibt die SPD ein Bild der Geschlossenheit ab. Dafür gibt es mehrere Gründe. Nicht alle SPD-Abgeordneten wurden „in den Friedenswissenschaften“ ausgebildet wie ihr Anführer. Aber viele dürften im Gespräch mit dem Wähler schon die Frage gehört haben, ob außer über die Schlagkraft von Waffensystemen nicht auch mal über Möglichkeiten zur Beendigung des Krieges nachgedacht werden könne.
Den meisten dürfte zwar ebenso bewusst sein, dass das Reden über Frieden oder auch nur das Einfrieren des Konflikts im Kreml als Zeichen der Erschöpfung Deutschlands aufgefasst werden wird. Des Landes also, das nach einem möglichen Wegfall der amerikanischen Hilfe für Kiew dessen wichtigster Unterstützer wäre. Aber selbst diejenigen Sozialdemokraten, die nicht mit dem Frieden Wahlkampf machen wollen, oder solche, die sich einen anderen Begriff als „einfrieren“ gewünscht hätten, wissen, dass Signale nicht nur nach außen, sondern auch nach innen an die eigene Bevölkerung wichtig sind.
Obwohl Mützenich sich also aus den eigenen Reihen unterstützt weiß, wirkt der sonst stets höfliche und freundliche Mann gerade verärgert. Nachdem er der Opposition im Bundestag vorgeworfen hatte, sie suche nur den „kleinen innenpolitischen Vorteil“ – was normal für einen Regierungspolitiker ist – wandte er sich der Ampel zu, deren einflussreichster Parlamentarier er ist: „Auch manches Maß in der Koalition ist nicht mehr dort, wo es sein sollte“, kritisierte er. Es sei ein „Armutszeugnis“, dass dem kein Einhalt geboten worden sei. Er nannte keine Namen, wandte sich nur dagegen, im Zusammenhang mit dem Bundeskanzler Begriffe wie „Sicherheitsrisiko“ oder „Unwahrheit“ zu benutzen. Das sei „nicht nur unredlich“, sondern „bösartig“.
Auch beim Kritisieren der Koalitionspartner kann sich PL-Mitglied Mützenich der Unterstützung der Seeheimer sicher sein. Mit Blick auf scharfe Worte zweier Grünen-Abgeordneter, unter anderem in einem Beitrag für die F.A.Z. sagt Wiese: „Mich hat es geärgert, wie Agnieszka Brugger den Ton in der Debatte gesetzt hat. Auch der Gastbeitrag von Toni Hofreiter war sehr befremdlich.“ Die SPD scheint ganz bei sich. Die Ampel-Koalition ist es immer weniger.