Die Schweiz gewinnt den Eurovision Song Contest 2024
Das war keine gute Woche für den Eurovision Song Contest (ESC). Und das auch abgesehen von den propalästinensischen Protesten und israelfeindlichen Demonstrationen am Samstagabend vor der Tür der Malmö-Arena. Was sich hinter den Kulissen in den vergangenen zwei Tagen abspielte, stellt alles in Frage, wofür der ESC vor allem steht: Zusammenhalt. Durch Musik.
„United by Music“ lautet schließlich auch das Motto seit dem gemeinsamen ESC des Vereinigten Königreichs und der Ukraine im vergangenen Jahr in Liverpool. Stattdessen: Zwietracht, Boykottaufrufe, Erpressungsversuche, Krisensitzungen. Mittendrin die Europäische Rundfunkunion, die mit der Situation überfordert schien. Vor allem der vermeintliche „Mister Eurovision“, der Generalsekretär des ESC, Martin Österdahl, auf den peinlicherweise beim Finale auch noch ein Liebeslied gesungen wurde.
Am Ende aber gab es ein versöhnliches Bild. Die gesamte Arena und auch alle Künstler feierten Nemo. Nemo tanzte überglücklich über die Bühne, denn Nemo hatte soeben den diesjährigen ESC für die Schweiz gewonnen. Noch bevor ihm Loreen die gläserne Siegertrophäe überreichen konnte, wurde Nemo von der Hexe aus Irland gekrönt, der anderen nichtbinären Person im Teilnehmerfeld, Bambie Thug. Für die Schweiz hatte zuletzt die Frankokanadierin Céline Dion mit dem französischsprachigen Lied „Ne partez pas sans moi“. Für sie war es der Beginn ihrer Weltkarriere.
Nemo wuchs über sich hinaus
Nun also Nemo, der kein Er und keine Sie ist. Einfach nur Nemo. Nemo wuchs über sich hinaus am Finalabend in Malmö, plötzlich stimmte alles. Doch es wird wieder Diskussionen geben wie im vergangenen Jahr. Denn Nemo führte wie Loreen haushoch bei den Jurys, der Finne Käärijä war dann aber 2023 in Liverpool viel beliebter bei den Zuschauern. Nemo bekam mit 365 Punkten von den Juroren sogar noch 25 Punkte mehr als Loreen, und nur sieben Punkte weniger von den Zuschauern als die Schwedin. Am Ende standen für Nemo und sein Lied „The Code“ 591 Punkte zu Buche.
Der Kroate Baby Lasagna und sein „Rim Tim Tagi Dim“ bekamen 101 Punkte mehr beim Tele-Voting als Nemo, von den Jurys aber nur 210 Punkte, was zusammen 547 ergab. Auf Platz drei kam die Ukraine (453 Punkte), dicht gefolgt von Frankreich (446 Punkte). Deutschland darf sich über einen sehr guten zwölften Platz freuen, mit dem selbst Isaak Guderian nicht gerechnet haben dürfte. Der Neunundzwanzigjährige bekam 99 Punkte von den Jurys, nur 18 von den Zuschauern. Dennoch ist es die beste Platzierung seit Michael Schultes vierter Platz 2018 mit „You Let Me Walk Alone“. Isaak überzeugte vor allem durch seine Stimme, die Inszenierung auf der Bühne hingegen war nicht der Rede wert.
Dem Finalabend waren stundenlange Krisensitzungen vorausgegangen. Ein Ergebnis: Die Startnummer fünf wurde gestrichen. Joost Klein war von der EBU disqualifiziert worden, weil es laufende polizeiliche Ermittlungen gegen ihn gab. Er soll eine Frau in der Nacht von Donnerstag auf Freitag nach seinem erfolgreichen Auftritt im zweiten Halbfinale hinter der Bühne tätlich angegriffen haben. „Während die Ermittlungen gegen ihn weitergehen, wäre es nicht angemessen für ihn, weiter am Wettbewerb teilzunehmen“, teilte die EBU samstagmittags mit. Joost Klein äußerte sich auch nach seiner Disqualifikation bislang nicht zu den Vorwürfen. Er war zuvor allerdings auch schon unangenehm dadurch aufgefallen, dass er sich weigerte, mit Eden Golan zusammen fotografiert zu werden, dass er sie bei einer Pressekonferenz mit Zwischenrufen drangsalierte und bei ihren Antworten demonstrativ die niederländische Fahne über den Kopf zog.
Die Niederländer verteidigen Joost Klein
Am frühen Samstagabend veröffentlichte der niederländische Sender AvroTros eine Erklärung mit einer Darstellung der Geschehnisse. Demnach versuchte eine Kamerafrau, gegen alle Regeln und Abmachungen, Joost Klein nach seinem Auftritt im zweiten Halbfinale hinter der Bühne zu filmen. „Joost wies wiederholt darauf hin, dass er nicht gefilmt werden möchte. Das wurde nicht respektiert. Das führte zu einer bedrohlichen Bewegung von Joost in Richtung Kamera. Joost hat die Kamerafrau nicht berührt.“ Der Vorfall sei gemeldet worden, was zu Untersuchungen durch die EBU und die Polizei führte.
AvroTros habe am Freitag und am Samstag lange mit der EBU beraten und mehrere Lösungen unterbreitet. „Nichtsdestotrotz hat die EBU entschieden, Joost Klein zu disqualifizieren.“ Die Strafe empfindet der Sender als schwer und unverhältnismäßig. Als Konsequenz weigerte sich der Sender, die Jury-Punkte von der dafür vorgesehenen niederländischen Moderatorin Nikkie de Jager-Drossaers, besser bekannt als NikkieTutorials, am Finalabend bekanntgeben zu lassen. Das musste Martin Österdahl übernehmen, der dafür lauthals ausgebuht wurde. Es war Verdruss über die Disqualifikation von Joost Klein. Aber auch noch mehr, denn viele auch in der Arena wollten die Teilnahme Israels nicht akzeptieren. Und so wurde nicht nur die Sängerin Eden Golan ausgebuht, sondern auch die israelische Punktesprecherin Maya Alkulumbre.
Und noch zwei Punktesprecher zogen ihre Teilnahme zurück, allerdings von sich aus: Zuerst Alessandra Mele für Norwegen, sie war 2023 in Liverpool beim ESC angetreten. Sie tue dies aus „Solidarität zu Palästina“ und weil sie nicht daran glaube, dass das ESC-Motto „United by Music“ aktuell auch gelebt werde. Wenig später folgte ihr der Finne Käärijä, der als Gast am Donnerstagabend im zweiten Halbfinale noch auf der Bühne gestanden hatte. Es fühle sich für ihn nicht richtig an, „Punkte heute Abend zu vergeben“. Offensichtlich zog er sich aus Freundschaft zu Joost Klein zurück, mit dem er in der Vergangenheit künstlerisch zusammengearbeitet hatte.
Zur selben Zeit fanden Krisensitzungen mit der EBU statt. Sie waren nötig geworden, weil die Delegationen aus Griechenland, Irland, Portugal, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich mit einem Boykott gedroht haben sollen. Warum genau, ist nicht klar. Allerdings hatten sich zumindest einige der Delegationen und ihre Künstler zuvor mehrfach kritisch über die Teilnahme Israels geäußert.
Demonstrativ blieben drei Teilnehmer bei der dritten Generalprobe am Samstagnachmittag der sogenannten Flaggenparade fern, dem Einzug der Künstler am Anfang der Show: Bambie Thug aus Irland, Marina Satti aus Griechenland und Nemo aus der Schweiz. Die Irin trat auch nicht in der Generalprobe auf, stattdessen wurde ihr Auftritt vom Halbfinale gezeigt, Satti und Nemo schon. Der Franzose Slimane wiederum unterbrach seinen Auftritt auf der Bühne, der einen A-cappella-Teil beinhaltete, um vor Tausenden Zuschauer seine Botschaft loszuwerden: Er sei hier, um als Sänger für Frieden zu singen, und das vereint in der Musik.
Langes Warten, überschattet von Zweifeln
Bis zuletzt war nicht klar, wer am Finalabend auftreten würde, ob es womöglich weitere Disqualifikationen wegen Regelverletzungen geben könnte. Von der EBU kein Wort, keine Erklärungen, ihre Sprecher waren wie Österdahl nicht zu erreichen. Das alles überlagerte einen Abend voller Höhepunkte, der mit einer Grußbotschaft von Kronprinzessin Victoria von Schweden begann, sie war selbst in der Arena als Zuschauerin dabei, mit einer Reunion der schwedischen Popgruppe Alcazar („Crying At The Discoteque“), die sich nach fast 20 Jahren 2018 aufgelöst hatte, weiterging, und mit einem Revival von ABBA endete.
Dafür wurde zunächst zu den Abbataren, den Avataren von Agnetha Fältskog und Björn Ulvaeus sowie Benny Andersson und Anni-Frid Lyngstad, nach London geschaltet, die von ihrem Sieg vor 50 Jahren beim ESC in „Waterloo“ erzählten. Die Stimmen waren aktuell von den vieren aufgezeichnet worden, es war also eine Art digitale Wiedervereinigung, danach sangen drei ehemalige ESC-Siegerinnen den damaligen Siegertitel: Carola (1991), Charlotte Perrelli (1999) und Conchita Wurst (2014).
Der nächste ESC findet also in der Schweiz statt, wo genau, ist noch völlig offen. In Frage kämen nur die größeren Städte: Zürich, Basel, Bern, Lausanne und Genf. Angeblich wurden im Vorfeld schon erste Gespräche geführt, weil Nemo zeitweise der haushohe Favorit war, wie Schweizer Medien berichteten. Mit den Geschäftsführern des Hallenstadions Zürich und der St. Jakobshalle in Basel etwa wurde schon gesprochen. Genauso war es in Kroatien, dort soll die Arena Zagreb bereits für die Monate April und Mai 2025 geblockt worden sein. Diese wäre nun wieder zu haben.