Ukraine: Ein düsteres Gesamtbild der Nachrichtendienste
Seit Anfang Mai stößt Russland von der Nordgrenze der Ukraine auf Charkiw vor, die zweitgrößte Metropole des Landes. Zuletzt scheint der Angriff zwar langsamer geworden zu sein, aber in Sicherheitskreisen ist man trotzdem weit entfernt von Optimismus. Fachleute eines westlichen Nachrichtendienstes sehen im neuen Angriff zwar keine Großoffensive, sondern nur einen Versuch, „ukrainische Kräfte zu binden“ und eventuell Charkiw oder die Großstadt Sumy „in Reichweite russischer Rohrartillerie zu bringen“.
Aber auch das wäre schon schlimm genug. Rohrartillerie tötet viel kostengünstiger als Drohnen und Raketen, und wenn Putins Geschütze erst mal nahe genug an Charkiw wären, um die Stadt unter Trommelfeuer zu nehmen, könnte das Zehntausende zur Flucht zwingen.
Auch sonst gibt es wenig gute Nachrichten. Nach einer erfolglosen ukrainischen Offensive im letzten Sommer und nach Monaten langsamer, aber stetiger russischer Geländegewinne danach sagen Geheimdienstfachleute, im Augenblick „verdüstere“ sich „das Gesamtbild“. Man erwarte nicht, dass es Kiew 2024 noch gelingen werde, „die Initiative zurückzugewinnen“. Im Gegenteil, man erwarte, dass die Ukraine bis zum Ende des Jahres noch „deutlich größere Geländeverluste“ erleiden werde als in den Monaten seit Januar.
Diese drastische Formulierung deutet vermutlich darauf hin, dass bis zum Winter die russischen Eroberungen, durch die seit Jahresbeginn etwas weniger als die Fläche von Hamburg verloren gegangen ist, bald auf ein Vielfaches anwachsen dürften. Von einem russischen Durchbruch ist allerdings nicht die Rede.
„Zeit durch Preisgabe von Raum“
Die Dienste leiten diese Erwartungen aus der materiellen Überlegenheit Russlands ab. Der Artillerieeinsatz der russischen Armee sei „deutlich“ stärker als jener der Ukraine, und vor allem könne Russland seine Verluste gerade „mehr als ausgleichen“. Die Ukraine dagegen könne nicht genug neue Soldaten einberufen, „um Verluste auszugleichen und Reserven zu bilden“. Die eben erst beschlossenen neuen Regeln zur Mobilmachung würden erst „Ende des Sommers Auswirkungen haben“, weil die Rekruten erst einmal ausgebildet werden müssten.
Russland dürfte in dieser Lage seine erwarteten Geländegewinne wohl nicht durch große Schlachten erzielen, sondern nach Einschätzung der Geheimdienste als Folge einer „defensiven Ausrichtung der ukrainischen Streitkräfte und damit verbundener Verzögerungsgefechte“. Die Ukraine kaufe gerade in kontrollierten Rückzügen „Zeit durch Preisgabe von Raum“ und wolle so vor allem ihr „Personal schonen“. Kiew hoffe, dadurch „Zeit für Mobilmachung und zum Wiederaufbau des eigenen MIK“, also des „Militärisch-Industriellen Komplexes“, zu gewinnen. Allerdings könnten Russlands Luftangriffe auf den „MIK“ dabei zum „Problem“ werden.
Im Parlamentarischen Kontrollgremium, durch das der Bundestag die Nachrichtendienste kontrolliert, wurde dieses Lagebild je nach Parteizugehörigkeit gegensätzlich bewertet. Aus der SPD kam Zustimmung, aus der Union Kritik. Der stellvertretende Vorsitzende des Gremiums, Roderich Kiesewetter von der CDU, bestätigte einerseits, dass Russland der Ukraine bei manchen Munitionsarten um das Vierzigfache überlegen sei. Bei Artilleriegranaten sei das Verhältnis eins zu fünf. Es sei auch richtig, dass die Einberufung und Ausbildung neuer ukrainischer Soldaten „Zeit brauchen“ werde.
„Schlechte Nachrichten bewusst gestreut“
Zugleich glaubt Kiesewetter aber, dass pessimistische Lagebilder aus Geheimdienstkreisen im Augenblick bewusst „gestreut“ würden, um im Sinne des Kanzleramtes „zu suggerieren, dass die Situation aussichtslos ist und eine militärische Unterstützung nichts mehr bringt“. Damit wolle man Kiew „subtil, aber grausam“ zu „Gebietsabtretungen“ drängen. Die Ukraine könne zwar „weiterhin siegen“, aber durch „jedes Verzögern der Unterstützung“ aus Deutschland und anderen Ländern werde das „schwieriger und verlustreicher“.
Das „Narrativ“ von der Aussichtslosigkeit des Widerstandes kann Kiesewetter zufolge nur überwunden werden, wenn man die bisherige Losung von Bundeskanzler Olaf Scholz, man werde die Ukraine „so lange wie nötig“ unterstützen, durch eine Strategie des „all in“ ersetze. Die „roten Linien“ im Widerstand gegen Russland müssten verschwinden, und in Europa sowie in der Ukraine müsse die Rüstungsproduktion „angekurbelt“ werden.
Kiesewetter unterstützte dabei eine Reihe von Bitten, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang der Woche in der „New York Times“ an die westlichen Verbündeten gerichtet hatte. Dazu gehört die Forderung, westliche Waffen auch gegen militärische Ziele auf russischem Gebiet einsetzen zu dürfen. Selenskyj beschrieb, wie die russische Armee sich vor ihrem neuen Vorstoß in Richtung Charkiw ungestört jenseits der Grenze habe aufstellen können und wie man wegen der westlichen Verbote nichts dagegen habe tun können.
„Warum dürfen wir keine Waffen einsetzen, um sie zu vernichten, wenn sie sich sammeln?“, fragte Selenskyj. Russland mache „in aller Ruhe weiter“, weil es wisse, dass die Partner der Ukraine keine Gegenschläge erlauben. Der Tod von „Menschen, Kindern“ sei die Folge. Kiesewetter sagte dazu, deshalb müsse man der Ukraine Angriffe mit westlichen Waffen auf russische „Produktionsstätten“, „Depots“ und „Bereitstellungsräume“ in Russland selbst erlauben.
Gegen die Illusionen der „Hardliner“
Außerdem bat Selenskyj die Verbündeten, mit eigener Flugabwehr vom Territorium der NATO aus russische Geschosse über der Ukraine abzuschießen. „Wo liegt das Problem?“, fragte er. „Ist das ein Angriff auf Russland? Nein. Schießt ihr damit russische Flugzeuge ab, tötet ihr russische Piloten? Nein.“ Kiesewetter hatte diese Bitte schon Mitte Mai in der F.A.S. unterstützt.
In der SPD zog man ganz andere Schlüsse aus den neuen Geheimdienstinformationen. Der Abgeordnete Ralf Stegner, auch er ein Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Nachrichtendienste, kommentierte die vorgelegten Informationen mit den Worten: „Im Kern stimmt das schon.“ Was da berichtet werde, decke sich „mit dem, was ich weiß“.
Allerdings widersprach Stegner den Schlussfolgerungen Kiesewetters. Er stellte fest, manche „Hardliner“ sagten immer: „Wenn wir nicht mehr Waffen liefern, wird die Ukraine verlieren.“ Ihre Hypothese sei, man könne „Putin militärisch an den Verhandlungstisch zwingen“. Diese Leute hätten aber die Aussichten auf einen „umfassenden militärischen Erfolg“ der Ukraine immer „überschätzt“.
Die fehlgeschlagene Offensive der Ukraine im letzten Jahr habe gezeigt: „Man kann und muss verhindern, dass die Ukraine verliert, aber nicht erreichen, dass sie gewinnt.“ Auch heute sei die Ukraine „meilenweit davon entfernt, ihre Kriegsziele zu erreichen“. Wer immer nur fordere, „die Waffe A müsse schneller geliefert werden und die Waffe B in noch größerer Menge“, der laufe deshalb „Illusionen“ nach. „Immer nur die Dosis zu erhöhen, wenn das Medikament nicht wirkt“, sei deshalb „nicht überzeugend“.
Stegner sagte, in dieser Lage müsse man der Ukraine „alles geben, was die Zivilbevölkerung schützt oder die Luftverteidigung stärkt“. Aber man müsse für diese Hilfe auch „Akzeptanz bei uns im Land“ finden. Die Finanzierung der Hilfe dürfe deshalb „nicht in Gegensatz zur inneren und sozialen Sicherheit“ geraten. Vorschläge, die „Eskalationsrisiken außer Acht lassen“, etwa der Ruf nach westlichen Bodentruppen, nach dem deutschen Marschflugkörper Taurus oder nach dem Schutz des Luftraums durch die NATO, seien deshalb schädlich. Bundeskanzler Scholz habe sie „zu Recht sehr klar“ zurückgewiesen.