Europawahl: AfD im Osten stark, Grüne verlieren Jungwähler
Die Grünen waren nie Volkspartei, relativ mehrheitsfähig waren sie nur unter Jungwählern. Das zeigte die Europawahl 2019, als jeder dritte unter 25 für sie stimmte, bei der Bundestagswahl 2021 war es noch jeder vierte. Weil Parteien ihre Stärken gerne als gegeben ansehen, neigten auch die Grünen dazu, ihre Zukunft weiterzuspinnen: Die Jungen, überzeugt vom Klimaschutz, würden sie tragen und ihnen einmal gesellschaftliche Mehrheiten bescheren. So kam es nicht.
Bei der Europawahl am Sonntag haben die Grünen eine dramatische Niederlage erlitten. Die Jungen wenden sich in weiten Teilen (minus 23 Prozent) von der Partei ab, was zu ihrem Abschneiden von knapp zwölf Prozent führt. Und auch wenn der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour am Wahlabend sagte, Klimaschutz sei kein Thema allein der Grünen, es gehe alle Parteien an – so zeigen die Nachwahlbefragungen, dass die Grünen aus Sicht der Wähler in erster Linie Klimaschutzpartei sind und das Thema auch unter Jungen an Bedeutung eingebüßt hat. Hinzu kommt die Ernüchterung über die Arbeit der Bundesregierung. Insgesamt sinken die Kompetenzwerte der Grünen. Auch ihr Wählerpotential ist gesunken. Es können sich also weniger vorstellen, unter Umständen für die Partei zu stimmen.
Unter Jungwählern ist die AfD besonders stark
Dass gerade die Grünen, die sich als nah am Zeitgeist begreifen, die Jugend verlieren, dürfte der Partei noch Kopfzerbrechen bereiten. Mit 17 Prozent stimmten stattdessen besonders viele Wähler unter 25 Jahren für die Union – knapp dahinter liegt die AfD mit 16 Prozent Zustimmung. Waren es vorher vor allem mittelalte Wähler, die der rechtsextremen Partei zum Erfolg verhalfen, ist sie nun einzig unter Rentnern schwächer als im Durchschnitt. Diese halten stärker Union und SPD die Treue.
Die Mehrheit aller Wähler begreift die Entscheidung für die AfD als Denkzettel. Fast 70 Prozent geben das in der Nachwahlbefragung der Forschungsgruppe Wahlen an – und gestehen den Anhängern der Partei zu, dass sie aus einer temporären Unzufriedenheit heraus handeln.
Unter AfD-Wählern ist das Bild umgekehrt: Nur gut jeder vierte erklärt seine Wahlentscheidung zum politischen Denkzettel – 70 Prozent unterstützen die politischen Forderungen. Die überwältigende Mehrheit der AfD-Wähler findet zwar nicht, dass die Partei rechtsextreme Positionen vertritt. Selbst wenn die Partei rechtextrem sei, ist es ihnen nach eigenen Angaben egal, solange die „richtigen Themen“ angesprochen werden, gaben sie gegenüber Infratest Dimap an.
Die AfD hat sich in den vergangenen Jahren ein festes Wählerklientel aufgebaut. Der Anteil derer, die sie als „ihre Partei“ bezeichnet, wächst deutlich. Während nur ein geringer Teil der AfD-Anhängerschaft enge Verbindungen der Partei zu Russland und China eingesteht, sehen dies Wähler anderer Parteien als gegeben an. Das mag ein Grund gewesen sein, wieso die Partei – anders als manche Umfragen vermuten ließen – insgesamt nicht mehr als knapp 16 Prozent bundesweit erhielt.
In Ostdeutschland liegt die AfD unangefochten vorn
In Ostdeutschland wird die AfD mit rund 29 Prozent der Stimmen stärkste Kraft. Die CDU folgt mit rund 20 Prozent, das BSW mit knapp 14 Prozent und die SPD mit deutlichem Abstand dahinter. Noch deutlicher fällt die Zustimmung für die AfD in Thüringen mit fast 31 Prozent und in Sachsen mit mehr als 34 Prozent aus.
Die Wählerwanderung zeigt, dass die AfD von fast allen Parteien Stimmen gewonnen hat. In etwa gleichem Maße von Union und SPD, gefolgt von der FDP und der Linken. Auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) gewinnt Stimmen von fast allen Parteien – am stärksten von SPD und Linkspartei, aber auch in geringerem Umfang von Union und FDP. Das BSW macht der AfD nur wenige Wähler abspenstig. Die These, dass Wagenknecht auch die AfD schwächt, ist damit trotzdem nicht widerlegt. Zumindest sorgte das BSW für ein Einknicken der AfD in den Umfragen.
BSW profitiert am stärksten von Linke-Wählern
Ganz ihrem bestimmenden Wahlkampfmotto entsprechend („Krieg oder Frieden – entscheiden Sie jetzt“) ist den Anhängern der Wagenknecht-Partei die Friedenssicherung am wichtigsten, gefolgt von einer Begrenzung der Zuwanderung; Sozialpolitik nimmt einen geringeren Stellenwert ein. Wagenknecht, die dem Bündnis den Namen gibt, ist die Klammer für ein Gemisch aus Sorgen ihrer Wähler: Dass Meinungen ausgegrenzt werden, der Einfluss des Islam und Kriminalität zunehmen oder Deutschland durch die Ukraine-Hilfen Schaden nimmt.
Drei Viertel geben an, dass sie wegen Wagenknecht für die Partei gestimmt haben, auch wenn die Namensgeberin nicht ins Europaparlament einziehen will. Das BSW profitiert besonders in Ostdeutschland von enttäuschten Anhängern der Linken, speziell in der Gruppe der sonst treuen Rentner.
Der Block der „Sonstigen“ wächst
Neben diesen älteren Wählern, die die Linke verloren hat, orientierten sich einige ihrer Anhänger zur AfD oder gingen gar nicht mehr wählen. Insgesamt halbierte die Linke ihr Ergebnis und erreicht 2,7 Prozent. Im Bundestag wäre sie damit nicht, aber für den Einzug ins Europäische Parlament reicht es. Mit ähnlich hohen Ergebnissen ziehen auch die Freien Wähler und Volt ins Parlament in Brüssel ein.
Letztere Partei, die in Großstädten und in sozialen Medien auf einen proeuropäischen Wahlkampf setzte, steigert ihr Ergebnis um 1,9 Prozentpunkte und könnte damit drei Abgeordnete entsenden. Programmatisch steht Volt den Grünen nah und fischt in ihrem Milieu; Damian Boeselager, Volt-Mitgründer und bisher einziger Abgeordneter, schloss sich der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament (EP) an. Für eine noch junge Kleinstpartei, die im Falle einer Sperrklausel wohl aus der Öffentlichkeit verschwunden wäre, ist Brüssel eine Art Sauerstoffzelt.
Scholz und SPD mit sinkenden Kompetenzwerten
Insgesamt haben die Wähler verstanden, dass ins EP einzieht, wer genug Stimmen für ein Mandat bekommt – anders als bei Bundestags- und Landtagswahlen wächst der Block der Sonstigen somit auf 14,3 Prozent. Auch der Tierschutzpartei und der „Partei“ um den Satiriker Martin Sonneborn dürfte wieder der Einzug gelingen.
Für die Wähler stand weniger als vor fünf Jahren Europa im Mittelpunkt, entscheidend war die Bundespolitik. SPD und Grüne nahmen das vorweg und plakatierten gleich mit Kanzler Olaf Scholz oder Wirtschaftsminister Robert Habeck. Zumindest für die SPD dürfte die Kampagne, die um den Begriff „Frieden“ kreiste, als Testballon für die Bundestagswahl im kommenden Jahr begriffen werden.
Im Vergleich zur Bundestagswahl sanken ihre Kompetenzwerte im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit – das Thema, mit dem Scholz zum Bundeskanzler wurde. „Friedenssicherung“ nimmt unter SPD-Wählern einen größeren Stellenwert ein. Gleichzeitig dürfte die Abgrenzung zum Kurs des BSW in diesem Punkt nicht einfach sein.
Auch Friedrich Merz wird wenig zugetraut
Die große Unzufriedenheit mit der Ampel-Koalition im Bund drückte sich darin aus, dass mehr als die Hälfte der Wähler ihr einen Denkzettel verpassen wollte. Selbst ein Fünftel derer, die ihr Kreuz bei der SPD machten, gab an, dass die Bundesregierung einen Schuss vor den Bug verdient habe. Auch wenn sich die persönliche Lage der Wähler nicht massiv verschlechtert hat, ist der Eindruck verbreitet, dass die wirtschaftliche Lage insgesamt und die Zukunftsaussichten schlechter geworden sind. Die allgemeine Lage gibt drei Viertel der Wähler Grund zur Beunruhigung.
Olaf Scholz, dessen Zustimmungswerte seit der Bundestagswahl massiv eingebrochen sind, dürfte einzig Hoffnung geben, dass trotz des guten Abschneidens der Union nur jeder fünfte dem Parteivorsitzenden Friedrich Merz zutraut, ein guter Bundeskanzler zu sein.
Die Union nimmt der FDP viele Wähler ab
Wieder waren es die älteren Wähler, die der Union einen entscheidenden Vorsprung verschafften und die SPD vor dem freien Fall bewahrten. Jeder fünfte über 60 stimmte für die Sozialdemokraten, bei einem Ergebnis von knapp 14 Prozent fällt das stark ins Gewicht; bei der CDU/CSU waren es in dieser Altersgruppe 39 Prozent.
Die Union nimmt der FDP mehr als eine Million Wähler ab, die bei der Bundestagswahl noch zur Stärke der Liberalen beitrugen. Eine weitere Million FDP-Wähler, die zur Bundestagswahl gingen, blieben diesmal der Wahl fern.