Moskaus stotternde Kriegsmaschine
Waffen gehören an vielen Orten zum Stadtbild in Moskau. In einem beliebten Park steht ein historischer Panzer, vor dem sich Spaziergänger gerne fotografieren lassen; auf einem Straßenring nicht weit vom Roten Platz ehrt eine Statue den Erfinder der AK-47, Michail Kalaschnikow, mit Sturmgewehr in der Hand. Plastik-Kalaschnikows sind auch auf Spielplätzen keine Seltenheit, und wenn Präsident Wladimir Putin Jahr für Jahr am 9. Mai anlässlich des Sieges der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg Kolonnen von Kettenfahrzeugen und Interkontinentalraketen durchs Zentrum der Hauptstadt rollen lässt, stehen am Straßenrand Tausende und jubeln.
Viele Russen sind stolz auf ihre Waffen, die überall auf der Welt bekannt sind: Panzer, Kampfflugzeuge und Flugabwehrsysteme gehören neben Atomkraftwerken zu den wenigen Produkten, die das Land jenseits von Bodenschätzen erfolgreich verkauft. Lange lagen in der Liste der größten Waffenexporteure nur die Vereinigten Staaten vor Russland.
Doch seit einigen Jahren ist Russlands Rolle auf dem Waffenmarkt ins Wanken geraten, weil wichtige Kunden wie Indien und China sich umorientiert haben. Nun verschärft ausgerechnet der Krieg gegen die Ukraine das Problem: Seit dem Überfall im Februar 2022 hat sich der Rückgang des Exports noch einmal deutlich verstärkt.
Weniger Waffenlieferungen aus Russland
Betrug Russlands Anteil am globalen Waffenhandel laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI zwischen 2014 bis 2018 noch durchschnittlich 21 Prozent, waren es zwischen 2019 und 2023 nur noch 11 Prozent – ein Rückgang um 53 Prozent. Lieferte Russland 2019 seine Waffensysteme noch an 31 verschiedene Länder, waren es 2023 nur noch 12. Seit drei Jahren hat Frankreich in der Rangliste der größten Waffenverkäufer Russland auf den dritten Platz verdrängt.
Es klingt paradox: Eigentlich könnte der nun offen geführte Krieg gegen die Ukraine die Chance sein, all die Wunderwaffen zu präsentieren, mit denen Putin seit Jahren prahlt; die auf Hochtouren laufende Waffenproduktion könnte auch den Export wieder anschieben. Doch das Gegenteil ist der Fall. Russland verliert Marktanteile – sogar in Ländern, die als „freundlich“ gelten, sich also den westlichen Sanktionen nicht angeschlossen haben.
„Der Krieg gegen die Ukraine ist alles andere als Werbung für russische Waffen“, sagt der russische Militärexperte Pawel Lusin, der Gastwissenschaftler an der amerikanischen Tufts-Universität ist: Niemand könne es sich leisten, so zu kämpfen wie die russische Armee – mit „gekauftem Kanonenfutter“, womit Lusin auf die hohen Verluste unter den russischen Soldaten anspielt, und den „Vorräten an sowjetischen Waffen, die Russlands Führung seit 1992 aufbewahrt hat“. Tatsächlich schätzen Fachleute, dass Russland an der Front Material einsetzt, das zu drei Vierteln aus alten Beständen stammt – darunter sogar einige notdürftig modernisierte Panzer vom Typ T-55 aus den Fünfzigerjahren.
Fehlende Präzision russischer Bomben
Kurz nach dem Überfall auf die Ukraine verbreiteten sich zudem etliche Bilder zerstörter russischer Panzer und Berichte über fehlgeleitete Raketen, abgeschossene Flugzeuge und Kampfschiffe. Pieter Wezeman, Rüstungsexperte bei SIPRI, geht davon aus, dass die „vielen Bilder von katastrophalen Ausfällen russischer Ausrüstung in der Ukraine das Vertrauen in russische Waffen weiter untergraben“.
Die Bomben funktionierten zwar in dem Sinne, dass sie irgendwo in der Ukraine niedergingen. Aber die Schläge seien nicht präzise: „Sie treffen irgendetwas, und das ist ausreichend für Russland“, sagt Wezeman. Wenn die russische Armee vorrücke, liege das nicht an guten Waffen – sondern daran, dass Moskau bereit sei, weit über das hinauszugehen, was in der Kriegsführung erlaubt sei, und extrem hohe Verluste an Soldaten und Ausrüstung in Kauf zu nehmen.
Misserfolge auf dem Schlachtfeld sind aber nicht das einzige Problem. Für Militärfachmann Lusin begann der Rückgang des russischen Exports noch vor dem Beginn von Russlands Aggression in der Ukraine damit, dass nicht nur die Qualität der Waffen Fragen aufwarf, sondern sie auch zunehmend veraltet waren. Damit seien sie uninteressant für Länder geworden, die ihre Armeen modernisieren wollten – wie Indien und China. Beide hatten seit Mitte der 2000er Jahre, als Russland dank hoher Ölpreise seine Waffenindustrie neu ausrichtete, zu dessen wichtigsten Kunden gehört.
Indien und China orientieren sich um
Doch zehn Jahre später veränderte sich das Gleichgewicht: Indien wendete sich wegen zunehmender Spannungen mit China und aus Qualitätsgründen westlichen Lieferanten zu, während China die eigene Rüstungsindustrie ausbaute. Peking hatte russische Waffen lange als Vorlage für eigene Entwicklungen genutzt. Inzwischen habe das Land von Russland „gelernt, was es lernen konnte“, und fertige „auf Augenhöhe“ mit dem Nachbarland, sagt Wezeman von SIPRI. Die Stockholmer Forscher gehen davon aus, dass Peking inzwischen sogar in der Lage ist, Triebwerke für seine Kampfjets zu bauen, die es bis vor Kurzem aus Russland einführen musste.
Nach 2014 kamen zu den Qualitätsproblemen die westlichen Sanktionen wegen der Annexion der Krim und der Unterstützung der Separatisten im Donbass. Der Westen nahm russische Waffenhersteller ins Visier, wie die Türkei 2019 feststellen musste, als sie eine Lieferung des russischen Flugabwehrsystems S-400 erhielt – und dafür von Washington aus der internationalen Partnerschaft für den Bau des modernen Kampfjets F-35 ausgeschlossen wurde.
Auch andere Länder wandten sich von Russland ab. So gab etwa Indonesien 2022 bekannt, wegen der Strafmaßnahmen französische und nicht wie geplant russische Kampfflugzeuge anzuschaffen. Und selbst das russlandfreundliche Serbien kauft inzwischen lieber Waffen aus China, Frankreich und Deutschland.
Auch die Drohung mit Sanktionen gegen beteiligte Banken schreckt Kunden ab, da Finanzgeschäfte mit russischen Partnern immer komplizierter werden. Allerdings weist Experte Lusin darauf hin, dass Russland viele Waffen ohnehin auf Kredit liefere, die in einigen Fällen gar nicht, in anderen erst Jahre später zurückgezahlt werden müssten. Russland gehe auf solche Geschäfte ein, da der Export sonst noch stärker zurückgehen würde.
Wirksame Sanktionen gegen Russland
Dass die Sanktionen in der Rüstung besser als in anderen Wirtschaftsbereichen wirken, dürfte einerseits daran liegen, dass sie zumindest in einigen Fällen konsequent durchgesetzt werden. So drohe Washington etwa Ägypten – das neben Algerien und Vietnam ebenfalls seit Langem zu Russlands wichtigsten Kunden gehört – damit, Finanzhilfen zu streichen, wenn es weiterhin russische Waffen kaufe, sagt Wezeman.
Andererseits habe der Westen auch Alternativen anzubieten. Dessen Waffensysteme seien zwar teurer, aber wegen der besseren Qualität brauche man davon in der Regel weniger, und sie müssten auch seltener gewartet werden, während die russischen Systeme regelmäßig nach Russland zurückgebracht werden müssten. Außerdem böten auch westliche Hersteller verschiedene Qualitätsstufen und Preiskategorien an.
Die jahrelange Bindung an den Waffenhersteller wird nun ebenfalls zum Problem für Russland. Denn dessen Ruf als verlässlicher Lieferant hat wegen des Ukrainekrieges gelitten. Es mehren sich Berichte über Verzögerungen bei Bestellungen aus dem Ausland; auch Putin sagte neulich, es sei nötig, die Verpflichtungen des Waffenexports gegenüber Partnern einzuhalten, doch müsse „in erster Linie der Bedarf unserer Streitkräfte sichergestellt werden“.
Begrenzte Kapazitäten
Zwar läuft die russische Rüstungsindustrie auf Hochtouren; der Staat pumpt in diesem Jahr umgerechnet rund 110 Milliarden Euro, etwa 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in die Branche – doch reichen die Produktionskapazitäten wegen der hohen Materialverluste kaum für den Nachschub an der Front, geschweige denn für den Export. Gerade erst beschwerte sich Sergej Tschemesow, Chef der Staatsholding Rostec, die einen großen Teil der Rüstungsbetriebe umfasst, öffentlich über die niedrige Rentabilität der Branche – damit sie moderne Waffen produzieren könne, müsse der Staat noch mehr Geld investieren.
Wie die gesamte russische Wirtschaft kämpft auch der Rüstungssektor mit hoher Inflation und einem eklatanten Mangel an Arbeitskräften: Zu den demographischen Problemen des Landes ist nun noch der Krieg gekommen, der Hunderttausende Männer bindet und sowohl Russen als auch Migranten außer Landes getrieben hat. Zwar zahlen die Rüstungsbetriebe schon deutlich höhere Löhne als viele zivile Unternehmen, doch seien immer noch Stellen unbesetzt, sagt Lusin.
Die Produktionssteigerung im vergangenen Jahr ist seinen Worten nach nur auf Kosten des Exports gelungen und weil die Arbeit auf mehr Schichten verteilt worden sei. So laufen die Maschinen länger, verschleißen aber auch schneller – was ein Problem ist, da ein Großteil von ihnen aus Deutschland, Taiwan, Japan oder Südkorea stammt. Aus China komme zwar Ersatz, aber der sei deutlich schlechter, sagt Lusin. Wie überfordert Russlands Rüstungsindustrie vor allem in der ersten Zeit nach dem Überfall von Ende Februar 2022 war, zeigt sich auch an Berichten, laut denen Ersatzteile aus eigener Produktion von Ländern wie Myanmar und Indien zurückgekauft werden mussten.
Neue Strategie: Elektronik aus China
Im vergangenen Jahr aber änderte Russland seine Strategie, wie aus einem neuen Bericht des amerikanischen Thinktanks Center for Strategic and International Studies (CSIS) hervorgeht: Auf dem Schlachtfeld setze Russland nun viel mehr auf relativ einfaches und billiges Kampfgerät wie etwa Drohnen, Artillerie und alte Panzer – statt anspruchsvoller Waffen wie Flugzeugen, Hubschraubern und Langstreckenraketen. Auf diese Weise gleicht Russland den Mangel an westlichen Komponenten aus. Denn für die Drohnenproduktion reichen teils rein zivile oder aber sogenannte Dual-Use-Güter, die sowohl für zivile als auch militärische Zwecke eingesetzt werden können – wie Mikroelektronik, Radare oder Kameras.
Den großen Teil solcher Bauteile bekommt Russland aus China. Ohne die Hilfe Pekings, aber auch Nordkoreas und Irans wäre Russlands aktuelle Waffenproduktion in dem Ausmaß nicht möglich, sagt Marija Snegowaja, Russland-Expertin beim CSIS, die an dem Bericht mitgearbeitet hat. Insofern unterscheide sich Russland auch von der Sowjetunion, die einen großen Teil ihrer Rüstung selbst habe herstellen können.
Sparen zulasten von Innovationen
Dass Russland zunehmend einfache Waffen herstellt, hat Folgen für den Export. Das Land werde aus dem Markt für Hightech-Waffen herausgedrängt, heißt es im Bericht des CSIS. Die Rüstungsbetriebe haben nicht nur Schwierigkeiten, an Bauteile für hoch entwickelte Waffen zu kommen, sondern sind auch von Innovationen abgeschnitten: Um Geld zu sparen und Wissen zu bündeln, wird modernes Kampfgerät häufig in Form internationaler Kooperationen entwickelt. Der einzige Partner, der für Russland noch infrage kommt, ist China. Selbst das sei aber unwahrscheinlich, sagt Lusin, da Peking darauf nicht angewiesen sei und beide Seiten einander – den Einigkeitsbeteuerungen zum Trotz – nicht vertrauten.
Mit Indien ist ein Versuch der Zusammenarbeit schon gescheitert: 2018 zog sich Delhi aus dem Projekt des gemeinsamen Kampfjets Su-57 zurück. Russland behauptet zwar, das Flugzeug mittlerweile in Dienst genommen zu haben, doch niemand im Westen könne das überprüfen, sagt Wezeman von SIPRI. Es sei „sehr unwahrscheinlich, dass ein Land mit der Wirtschaft Russlands ein so komplexes Flugzeug in der kurzen Zeit entwickeln und effektiv in Dienst nehmen kann“. Auch in der Ukraine wird es bisher nicht eingesetzt.
Ähnliches gilt für den 2015 als „Panzer der Zukunft“ vorgestellten T-14, „Armata“. Er müsste mittlerweile in hoher Stückzahl produziert werden, sagt Wezeman, „aber zu sehen ist davon nicht viel“. Snegowaja vom CSIS hält es allerdings auch für möglich, dass Russland seine besseren Waffen aufspart für eine mögliche Konfrontation mit der NATO.
Es sei zu früh, das Ende des russischen Waffenexports auszurufen, glaubt die Expertin: Auch wenn Russland weniger moderne Waffensysteme verkaufe, könne es als Lieferant für ärmere Länder attraktiv bleiben. Zumal Moskau anders als der Westen keine Forderungen an seine Kunden stelle wie Garantien zur Wahrung von Menschenrechten. Außerdem sammele Russland gerade wertvolle Erfahrungen mit dem Einsatz von Drohnen und investiere hohe Summen in deren Produktion. Es sei nicht ausgeschlossen, dass Russland damit später Exportmärkte zurückgewinne.
Russlands neuer Verteidigungsminister, der Ökonom Andrej Beloussow, hatte als einer der ersten Beamten schon 2014 von der großen Bedeutung von Drohnen gesprochen. Er soll nun dafür sorgen, dass die hohen Staatsausgaben für die Rüstung effizienter eingesetzt werden, und gegen die weitverbreitete Korruption im Verteidigungsministerium vorgehen. Am sinkenden Waffenexport dürfte Beloussow aber so schnell nichts ändern können. Die Experten des CSIS halten es für möglich, dass auch China Russland in den nächsten Jahren überholt – dann läge Russland nur noch auf Platz vier der Waffenverkäufer, aber immer noch vor dem laut SIPRI derzeit Fünftplatzierten Deutschland.
Wirtschaftlich hat das zwar kaum Auswirkungen für Russland, da die Waffenverkäufe nur für 2 bis 5 Prozent aller Exporte stehen. Doch bedeute der Rückgang einen erheblichen Verlust an Einfluss, sagt Snegowaja vom CSIS: Mit dem Waffenhandel und damit einhergehenden Abhängigkeiten habe der Kreml in der Vergangenheit strategische Allianzen geschmiedet. Für den Westen biete sich jetzt die Chance, die entstehenden Lücken zu besetzen. Dafür allerdings müsse insbesondere Europa viel mehr Geld in die Waffenproduktion investieren als bisher.