Wahl der EU-Spitzenposten: Wie lässt sich Giorgia Meloni noch überzeugen?
Eigentlich war schon alles entschieden, als die Staats- und Regierungschefs am Donnerstag zum Europäischen Rat in Brüssel eintrafen. Das Personalpaket für die Spitzenposten stand seit Dienstag fest. Und auf die strategische Agenda mit den Prioritäten der nächsten fünf Jahre hatten sich ihre EU-Botschafter am Vortag geeinigt. Also, ein Wohlfühlgipfel? Mitnichten.
Denn bei der raschen Einigung auf die „Top Jobs“ war ein Kollateralschaden entstanden: Giorgia Meloni, die italienische Regierungschefin und Vorsitzende der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), also der nationalkonservativen Parteienfamilie, blieb außen vor. Niemand hatte sie einbezogen. Am Dienstagabend war sie vom griechischen Ministerpräsidenten über das Ergebnis informiert worden. Angeblich weigerte sie sich zunächst sogar, ans Telefon zu gehen, wie in Brüssel kolportiert wurde.
Meloni war sauer. Wie sauer, konnte man ihrer Regierungserklärung im italienischen Parlament am Mittwoch entnehmen. „Kein echter Demokrat, der an die Souveränität des Volkes glaubt, kann es akzeptabel finden, dass in Europa schon vor den Wahlen Diskussionen über Spitzenposten geführt wurden“, sagte sie – eine Breitseite gegen das Konzept von Spitzenkandidaten. Die EU-Institutionen seien mit einer „neutralen Logik“ entworfen worden.
„Die Logik des Konsenses wird von Hinterzimmer-Entscheidungen überschattet, bei denen einige wenige für alle entscheiden“, sagte sie, „was ich im Namen der italienischen Regierung angefochten habe und nicht beabsichtige, zu übernehmen.“ Meloni beklagte sich speziell darüber, dass Sozialdemokraten und Liberale sie von einer Mehrheit ausschließen wollten – dies werde zu einer „fragilen Mehrheit“ führen.
Ein italienisches Nein als politisches Signal
Das war der Unterton, und diese Passagen machten sofort in Brüssel die Runde. Meloni hatte nicht ausdrücklich gesagt, wie sie im Europäischen Rat zum Personalpaket abstimmen werde. Doch es klang, als müsse man mit einem italienischen Nein rechnen. Rechnerisch wäre das kein Problem, es reicht eine Mehrheit von mindestens 20 Staaten mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung. Doch was wäre das für ein politisches Signal: Die Europäische Union startet mit Personal in die nächsten fünf Jahre, das ihr drittgrößtes Mitgliedsland ablehnt?
Gewiss, es gab einen Präzedenzfall. Der britische Premierminister David Cameron hatte 2014 ebenfalls im Europäischen Rat gegen Jean-Claude Juncker gestimmt, gemeinsam mit Viktor Orbán aus Ungarn. Schon Cameron mokierte sich über das Spitzenkandidaten-Modell, auf das sich die großen Parteienfamilien erstmals verständigt hatten. Juncker habe nirgendwo auf dem Stimmzettel gestanden, argumentierte er. Die meisten Bürger hätten nicht einmal gewusst, dass er sich um den Vorsitz der EU-Kommission bewerbe. Doch standen die Briten seinerzeit schon am Rand der Union, erpicht auf Ausnahmen und Sonderregelungen, nicht auf Mitgestaltung.
Meloni hat sich dagegen seit ihrer Wahl im Oktober 2022 nach Kräften gemüht, Kompromisse zu finden. So kamen die Partnerschaftsabkommen mit Tunesien und Ägypten zustande, die Migration eindämmen sollen. Sie bemühte sich sogar, den ewigen Blockierer Orbán einzubinden, als es um die weitere Unterstützung der Ukraine ging. Bei der Europawahl legte die EKR-Fraktion zu, inzwischen ist sie die drittstärkste Kraft im Europäischen Parlament. Trotzdem war Meloni zum Zuschauen verdammt.
Sichtschutzwände, um die Peinlichkeit zu kaschieren
Schon beim G-7-Gipfel in Apulien ein paar Tage nach der Wahl war das so. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der französische Präsident Emmanuel Macron trafen sich mit Ursula von der Leyen – ohne die Gastgeberin. Beim informellen Dinner der Staats- und Regierungschefs kurz darauf, musste Meloni genervt im Sitzungssaal warten, bis die Unterhändler von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen ihre Konsultationen beendet hatten. Ratspräsident Charles Michel ließ gar Sichtschutzwände aufbauen, um die Peinlichkeit zu kaschieren, dass da ein Rat neben dem Rat stattfand. Am vorigen Dienstag dann der Deal in derselben Runde, von dem Meloni aus Eilmeldungen erfuhr.
In Brüssel waren am Donnerstag zwei unterschiedliche Erklärmuster zu hören. Eines lautete: Anders ging es nicht. Die „parteipolitische Logik“ sei zwar „höchst unbefriedigend“ für Meloni, sagte ein Diplomat, aber: „Realpolitik, vom Ende her gedacht“. Die drei Familien hätten eben eine Mehrheit im Rat und im Europäischen Parlament. Auch der Bundeskanzler argumentierte so. „Wir müssen klugerweise einen Vorschlag machen, der auf eine Mehrheit im Parlament rechnen kann“, argumentierte Scholz.
Von der Leyen muss von den Abgeordneten in geheimer Wahl als Kommissionspräsidentin bestätigt werden. Die designierte Außenbeauftragte Kaja Kallas, eine Liberale, muss Anhörungen durchlaufen und sich mit der gesamten Kommission am Ende dem Votum des Parlaments stellen. Nur dem Portugiesen António Costa, einem Sozialdemokrat, reicht die Nominierung durch den Europäischen Rat.
Das zweite Muster: Es sei ein Fehler gewesen, Meloni im Wahlkampf zu isolieren und als Rechtsextremistin abzustempeln, wie es auch Scholz getan hatte. Denn man sehe sich immer zweimal – und könne nicht von Meloni erwarten, dass sie das einfach so wegstecke.
Es könnte doch auf Melonis Partei Fratelli d’Italia ankommen
Außerdem sei von der Leyens Wahl im Parlament mit den rund 400 Stimmen nicht gesichert. Die Mehrheit dort liegt bei 361, erfahrungsgemäß folgen aber 10 bis 15 Prozent der Abgeordneten nicht der Linie ihrer Parteiführung. Also könne es doch auf Meloni ankommen, deren Fratelli d’Italia 25 Abgeordnete ins Parlament entsenden. Es sei „wichtig, gerade auch Italien gut einzubinden“, sagte der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer, ein EVP-Mann. „Für Österreich ist sie eine wichtige Partnerin.“
Von der Leyen hatte selbst vor der Wahl gesagt, sie werde Meloni eine Zusammenarbeit anbieten. Nun aber haben die Unterhändler der drei Familien entschieden, dass von der Leyen zwar auf sie zugehen soll, aber nur als italienische Ministerpräsidentin, nicht als Parteivorsitzende – eine Konzession vor allem an Scholz und die Sozialdemokraten.
Konkret heißt das: Von der Leyen kann mit Meloni über den Posten Italiens in ihrer Kommission reden, auch über die Interessen des Landes. Sie soll ihr jedoch keine parteipolitischen Zugeständnisse machen. Natürlich ist das eine ziemlich künstliche Trennung, denn Melonis Regierungsprogramm ist ja nicht von den politischen Zielen ihrer Partei losgelöst.
Für von der Leyen bedeutet das einen schwierigen Balanceakt. Was Italien in der nächsten EU-Kommission will, sagt Außenminister Antonio Tajani, ein Christdemokrat, derzeit in jedes Mikrofon, das ihm hingehalten wird: einen „Vizepräsidenten“ und ein „wichtiges Portfolio“, etwa für Industrie.
Die starke Rolle der EKR
Man darf annehmen, dass von der Leyen informell darüber schon mit Meloni in Kontakt ist. Anders als 2019 sollte die Auswahl der „exekutiven Vizepräsidenten“ – also der tatsächlichen Stellvertreter – von der Leyens aber nicht in das Personalpaket beim Europäischen Rat einfließen. Seinerzeit waren allein Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale damit bedacht worden. Das müsste sich nun wohl ändern, um auch die starke Rolle der EKR anzuerkennen.
Im Europäischen Parlament wird von der Leyen zunächst nur mit der „Plattform“ sprechen, wie das Dreierbündnis genannt wird, das sie tragen soll. Am Mittwoch traf sie die Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten und Liberalen zu Gesprächen. Doch hat sie auch schon eine Einladung von der Linksfraktion bekommen, selbiges wird von der EKR erwartet, wenn sich die Fraktion in der nächsten Woche konstituiert hat.
Das war eigentlich schon für diese Woche erwartet worden, wurde aber am Mittwoch um eine Woche verschoben, weil es Differenzen zwischen Melonis Leuten und der zweitstärksten Delegation, der polnischen PiS-Partei, gab. Der frühere Ministerpräsident Mateusz Morawiecki drohte gar damit, die Fraktion zu verlassen und mit Orbáns Partei Fidesz und anderen eine neue Fraktion zu gründen. „Die Wahrscheinlichkeit ist fünfzig zu fünfzig“, sagte er. Ein solches Szenario würde die EKR zurückwerfen, doch ist gut möglich, dass die Polen nur den Preis hoch treiben wollen.
Auch 2019 war von der Leyen von allen Fraktionen zu Gesprächen eingeladen worden. Derlei Kontakte will sie sich nicht verbieten lassen. Allerdings kann sie bei den Nationalkonservativen nicht offen um Zustimmung werben – sonst läuft sie Gefahr, mehr Stimmen von Sozialdemokraten zu verlieren als es dort zu gewinnen gibt. Freilich deckt sich das Europawahlprogramm der EKR zum größeren Teil mit dem der Europäischen Volkspartei, für die von der Leyen als Spitzenkandidatin angetreten war. Beide Parteien wollen schärfer gegen irreguläre Migranten vorgehen, die EU „entbürokratisieren“ und den Klimaschutz nur mit der Wirtschaft als Partner erreichen.
Strategische Agenda der EU für die nächsten fünf Jahre
Diese Schwerpunktsetzung schlägt sich auch in der strategischen Agenda nieder, die am Donnerstag vor den Staats- und Regierungschefs lag. „Wir werden neue Wege prüfen, um irregulärer Migration vorzubeugen und ihr entgegenzuwirken“, heißt es dort. Das war allgemein gehalten, die Agenda musste schließlich im Konsens beschlossen werden, anders als das Personalpaket.
Für die Mehrzahl der Regierungschefs ist es die Sprachchiffre dafür, dass auch Modelle nach dem Vorbild von Albanien und Ruanda erwogen werden sollen – also die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten. Zum Klimaschutz heißt es, man werde „pragmatisch“ auf dem Weg zur Klimaneutralität voranschreiten, die bis 2050 erreicht werden soll. Das könnte auch eine Abkehr vom Verbrenner-Aus bedeuten, das für Neuwagen ab 2035 beschlossen worden ist. Bürokratische und regulatorische Lasten sollen „ambitioniert vermindert“ werden.
Diese Themen hatte Meloni auch in ihrer Regierungserklärung anklingen lassen. In Brüssel überwog deshalb die Erwartung, dass sie das Personalpaket – anders als Orbán – am Ende nicht ablehnen, sondern sich enthalten würde. Denn nur dann bliebe sie wirklich im politischen Spiel. Bei einem Nein wäre von der Leyen dagegen nicht an informelle Absprachen für die Kommission gebunden. Es würde auch eine Zusammenarbeit im Parlament zwischen der EVP und der EKR erschweren – und von der Leyen dazu drängen, die Zustimmung der Grünen zu suchen.
Donald Tusk bemühte sich schon bei seiner Ankunft, Wunden zu heilen. Mit dem Griechen Kyriakos Mitsotakis hatte er für die EVP über die Spitzenposten verhandelt. „Niemand respektiert Ministerpräsidentin Meloni mehr als ich“, sagte Tusk. „Es gibt kein Europa ohne Italien.“ Und beim „Familienfoto“ durfte Meloni – anders als noch im März – in der ersten Reihe stehen.