Handysüchtige Kinder: Sollte man Smartphones in Schulen verbieten?
Manchmal wünscht sich Silke Müller, Handys wären nie erfunden worden. Wenn sie wieder einen Schüler ermahnen muss, weil der unter der Bank auf Tiktok ist statt bei den Modalverben an der Tafel. Wenn sie wieder einem Jugendlichen erklären muss, warum ChatGPT zwar eine tolle Erfindung ist, bei der Lösung von Klassenarbeiten aber nichts zu suchen hat. Wenn ihre Schüler zwar körperlich anwesend sind, aber trotzdem ganz weit weg. „Viele sind handysüchtig“, sagt die Leiterin einer Oberschule bei Oldenburg, „die können gar nicht mehr ohne.“
Eine frühere Lehrerin an einer saarländischen Gemeinschaftsschule berichtet gar von dramatischen Szenen. Als sie mal einem Jungen sein Smartphone wegnehmen wollte, weil der wieder heimlich gezockt hatte, wurde er so aggressiv, dass sie andere Lehrer zur Unterstützung holen musste.
Ihr Smartphone verteidigen viele Kinder und Jugendliche bis aufs Blut, oft schon in der Grundschule. Eigentlich sollen die Heranwachsenden in der Schule einen Raum haben, in dem sie ungestört lernen und reifen können. Stattdessen warten sie auch in Mathe ständig auf den nächsten Like.
Abgelenkt und unkonzentriert
Natürlich führt nicht jeder schnelle Tiktok-Ausflug oder Whatsapp-Chat unter der Bank gleich in die pathologische Sucht wie bei denen, die der Jugendpsychiater Rainer Thomasius im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) behandelt. Diese Kinder und Jugendlichen sind so auf ihr Smartphone fixiert, dass sie kaum noch soziale Kontakte haben, nichts mehr essen, ihrem Handy alles andere unterordnen.
Thomasius hält das Suchtpotential von Smartphones für enorm, das hat er vor Kurzem auch in einer gemeinsamen Studie mit der DAK erforscht. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die soziale Medien, digitale Spiele und Streamingdienste in einem gesundheitsgefährdenden Ausmaß nutzten, sei besorgniserregend, sagt er. „Die Zahl der suchtkranken Jugendlichen mit medienbezogenen Störungen ist seit 2010 immer größer geworden. Damals kamen die Smartphones auf den Markt.“
Auch unterhalb der pathologischen Sucht haben Smartphones immer gravierendere Auswirkungen. Silke Müller erlebt das jeden Tag. Die Schulleiterin hat vor einer Weile ein Buch über die Gefahren geschrieben, denen schon Grundschüler durch die sozialen Medien ausgesetzt seien – ein wütender Hilferuf, der zum Bestseller wurde, weil das Thema allen Lehrern und Eltern auf den Nägeln brennt. „Die Kinder sind unkonzentriert, folgen dem Unterricht nicht, verabreden sich unter der Bank mit dem Handy. Sie sind quasi in ständiger Alarmbereitschaft“, sagt Müller. An manchen Tagen sei an normalen Unterricht kaum zu denken.
Zu diesem Ergebnis kam auch ein Zusatzbericht zur PISA-Studie, der den Leistungsabfall in der Kohorte der Fünfzehnjährigen unter anderem mit deren intensiver Smartphone-Nutzung erklärte. Müller sagt: „Allein das Wissen, dass das Handy angeschaltet im Ranzen oder in der Hosentasche ist, lenkt die Schüler vom Unterricht ab.“
Doch nicht nur der Bildungserfolg, auch die soziale Entwicklung gerate unter die Räder, warnen Pädagogen. Auf vielen Schulhöfen, sagt etwa die Lehrerin aus dem Saarland, sei es gespenstisch still, weil die Schüler auf ihre Bildschirme starrten statt miteinander zu lachen, zu streiten oder Fußball zu spielen. Sich mit anderen auseinanderzusetzen und empathisch Konflikte zu lösen, falle vielen zunehmend schwer.
Das gilt auch für manche Eltern. Silke Müller erzählt, wie sie mal ein Vater während der Schulzeit anrief und barsch zur Rede stellte, wieso sie gerade mit seinem Sohn geschimpft habe. Der war kurz aus dem Unterricht aufs Klo gegangen und hatte sich gleich bei seinen Eltern beschwert. Ein anderer Vater habe seiner Tochter geraten, die Lehrer beim nächsten Mal mit dem Handy zu filmen, wenn sie mit ihr schimpfen – als Videobeweis wie beim Fußball. „Da ist mir die Kinnlade runtergefallen“, sagt Müller.
Eigentlich ist also klar, dass da gerade etwas gehörig aus der Bahn läuft. Eine Forderung wird deshalb immer lauter: Handys raus aus den Schulen, einfach verbieten! Viele Länder haben schon ein mehr oder minder striktes Handyverbot an Schulen erlassen, um Ablenkung, Cybermobbing und Suchtgefahr Herr zu werden.
In Los Angeles hat die Schulverwaltung ein Handyverbot für sämtliche Schulen und Ausbildungsstätten beschlossen. Ein Schulrat wurde mit den Worten zitiert, die Ergebnisse aus Schulen, an denen schon ein Verbot gelte, seien phänomenal: „Die Kinder sind glücklicher, sie reden miteinander, ihre Noten verbessern sich.“
Auch anderswo in den Vereinigten Staaten müssen Schüler ihre Smartphones mittlerweile am Schuleingang abgeben wie Schusswaffen. Die Debatte in Amerika hat auch durch ein Buch des Sozialpsychologen Jonathan Haidt Fahrt aufgenommen. In dem malt er mit drastischen Worten das Bild einer ganzen Generation, die ihren Smartphones rettungslos verfallen ist. Haidt, dessen Warnungen manche Forscher allerdings als Alarmismus abtun, fordert Drastisches: ein Handyverbot an allen Schulen, Smartphones erst für Jugendliche ab 14 Jahren, soziale Medien erst ab 16.
Bildungsforscher in Schweden schlugen Alarm
So weit wollen viele in Europa nicht gehen. Aber auch hier haben einige Länder in den vergangenen Jahren Handyverbote an Schulen eingeführt oder verschärft, etwa Italien und Großbritannien. In Frankreich dürfen alle Schüler bis 15 Jahre kein Handy mehr im Unterricht und auf dem Schulhof benutzen. Schweden, das sich lange als Pionierland verstanden und Tablets selbst für Kita-Kinder propagiert hatte, vollzog eine Kehrtwende und will die Bildschirme im Unterricht wieder zurückdrängen. Handys sollen nun bis zur neunten Klasse verboten werden. Auch dort hatten Bildungsforscher Alarm geschlagen, weil die Kinder abgelenkt und Leseverständnis sowie Wortschatz zurückgegangen waren.
Und in Deutschland? „Aus medizinischer Sicht wäre ein einheitliches Handyverbot, zumindest bis zur Mittelstufe, absolut wünschenswert“, sagt Rainer Thomasius vom UKE. Die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien machte im vergangenen Sommer Schlagzeilen, als sie vermeintlich genau dafür plädierte, zumindest an Grundschulen. „CDU-Vize fordert: Handys raus aus Kitas und Grundschulen!“, schrieb die „Bild“-Zeitung in großen Lettern. Das wirkte, als könne die Politik die Geräte einfach aus allen deutschen Schulgebäuden verbannen, wenn sie es nur wollte. Doch so leicht ist das nicht.
Prien hatte nämlich gar nicht von einem „Handyverbot“ gesprochen, das viele Juristen nicht für durchsetzbar halten, sondern von einem „privaten Handynutzungsverbot“: Man kann es Schülern nicht verbieten, ein Smartphone mit in die Schule zu bringen – höchstens, im Unterricht darauf zu zocken.
Und es ist auch nicht so, als gingen alle Schulen bislang völlig blauäugig mit dem Thema um. Nach einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom aus dem Jahr 2023 ist es immerhin an der Hälfte der Schulen verboten, das Handy privat zu nutzen; ein Drittel der Schüler darf in Pausen und Freistunden daddeln. Andererseits: Warum wird es nicht überall verboten?
Bildung ist Ländersache, das gilt auch für den Umgang mit Handys. In allen 16 Bundesländern, das hat eine Recherche der F.A.S. ergeben, überlassen es die Behörden den Schulen, sich Regeln für die Handynutzung zu geben. Manche Schulen erlauben Handys in den Pausen und auch im Unterricht, wenn es zum Beispiel um rechte Propaganda bei Tiktok geht; andere verbieten sie im Klassenzimmer und auf dem Schulhof, wieder andere kassieren die Smartphones zum Unterrichtsbeginn ein und geben sie erst nach der Stunde wieder aus.
Ein Handyverbot? So einfach ist es nicht
Für eine flächendeckende Regelung müsste man nicht gleich den Bildungsföderalismus über den Haufen werfen. Die Kultusministerkonferenz könnte eine Regelung beschließen, die alle Minister in ihren Ländern durchsetzen. Das sei aber nicht nötig, heißt es aus vielen Bildungsministerien, es reiche, wenn die Schulen das selbst klärten.
Stefan Düll, der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbands, glaubt nicht an eine bundesweite Regelung. „Das wird nicht passieren.“ Vielen Schulen fehle schon allein das Personal, um die Handys Hunderter Schüler sicher zu verwahren und wieder auszugeben.
Hinzu kommen weitere Fallstricke, um die viele Bildungspolitiker wissen. Ministerin Prien sagt, um Handys einschließen zu können, müsse sichergestellt sein, dass die Kinder trotzdem laufend Kontakt zu ihrer Familie halten könnten – zum Beispiel, wenn ihnen schlecht werde oder wenn sie ein Geschwisterchen bekämen.
Oder Nordrhein-Westfalen: Dort heißt es aus dem Schulministerium, die Schulordnung könne die Nutzung von Handys auf dem Schulgelände einschränken, „wenn gleichzeitig sichergestellt wird, dass Schülerinnen und Schüler im Falle eines berechtigten Interesses das Handy verwenden können“ – etwa durch die Einrichtung von „Handyzonen“. Nur: Was ist ein „berechtigtes Interesse“? Wenn Mama fragt, wie die Mathearbeit war?
Denn nicht nur die Schüler, auch viele Eltern sind mittlerweile Handy-Lobbyisten. Sie erwarten wie selbstverständlich, ihre Kinder jederzeit erreichen zu können, selbst auf dem Schulhof oder sogar im Unterricht. Dass man im Notfall, wie früher, auch vom Sekretariat anrufen lassen könnte, erscheint vielen offenbar ebenso absurd wie die Vorstellung, mal zwei Tage offline zu sein. Selbst die Frage, ob Lehrer die Handys von Schülern übers Wochenende einbehalten dürfen (dürfen sie), landete schon vor Gericht
Die ganze Gesellschaft sei längst handysüchtig, sagt die Lehrerin aus dem Saarland, da müsse man doch nur mal mit der Bahn fahren. Sie erzählt von Schülern, die schon ein Zweit- oder Dritthandy haben, falls das erste einkassiert werde. Lehrern bleibe eigentlich nur, die Handys ausgeschaltet im Ranzen zu lassen oder im Klassenraum zu verwahren – und Verstöße hart zu sanktionieren. „Trotzdem ist das ein Kampf gegen Windmühlen, den gewinnen wir nicht mehr.“ Es helfe aber ja auch nichts, die digitale Welt auszusperren. „Wir sollten den Kindern lieber helfen, angemessen mit ihr umzugehen.“
Auch Giorgina Kazungu-Haß sieht das so. Sie ist Schulleiterin an einer Berliner State-of-the-art-Grundschule: Jedes Klassenzimmer hat eine digitale Tafel, jedes Schulkind ein Tablet. Auch Kazungu-Haß kann viele Geschichten erzählen von der Smartphone-Seuche. Aber sie sagt: „Wenn wir den Kindern in der Schule keinen richtigen Umgang mit der digitalen Welt beibringen, wer sonst?“ Auf ihren Tafeln kann sie mit ihren Schülern durchs antike Rom laufen oder per Youtube-Video erklären, wie der Algorithmus von Tiktok funktioniert – nie zuvor war das Weltwissen so leicht verfügbar.
Kazungu-Haß findet, es ist auch eine finanzielle Frage, wie Schulen mit dem Thema umgehen: Je besser die digitale Ausstattung, desto strikter könne man private Handys verbannen. Viele Schulen sind digital aber so schlecht aufgestellt, dass die Schüler doch wieder die eigenen Geräte rauskramen müssen, um zu lernen, wie man Fake News erkennt.
Für Mediziner wie Rainer Thomasius greift die Debatte ohnehin zu kurz. Er sagt, noch viel wichtiger seien die Eltern: Wer zu Hause gelernt habe, das Handy auch mal wegzulegen, könne in der Schule leichter darauf verzichten. Doch Mütter und Väter sind oft schlechte Vorbilder.
Viele Eltern, die es rasend macht, wenn ihre Kinder nur noch auf den Bildschirm starren, starren selbst in jeder freien Sekunde auf einen und merken es nicht mal. Oder sie kaufen ihrem Zweijährigen eine Halterung für den Kinderwagen – damit das Tablet besser hält.