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Mit Liebe gegen Putin: Kremlgegner Ilja Jaschin nach Gefangenenaustausch

Als Ilja Jaschin die kleine Bühne im Berliner Mauerpark betritt, jubeln die Anwesenden. Sie klatschen, zücken ihre Smartphones, wollen ein Bild des Mannes, der vor einer Woche noch in einem russischen Straflager saß. „Ich kann kaum glauben, dass ich jetzt hier stehe“, sagt Jaschin. Er bedankt sich bei seinen Unterstützern, ruft in die Menge: „Ihr habt mich gerettet!“

30.000 Briefe und Postkarten habe er in den vergangenen beiden Jahren in der Haft erhalten, berichtet er. Jedes Schreiben habe sich nach „Freiheit“ angefühlt. Zehntausend Briefe habe er beantworten können. Zum Beweis hält er seinen rechten Zeigefinger in die Höhe. So wund sei der nicht mal in der Schule gewesen. Das Publikum lacht.

Es ist am Mittwochabend Jaschins erster großer Auftritt vor seinen Anhängern, seit er durch einen Gefangenenaustausch freigekommen ist. Er richtet sich an die Russen im Exil, ins Deutsche wird die Veranstaltung nicht übersetzt. 3000 Menschen hatten sich nach Angaben der Organisatoren angemeldet, gekommen ist etwa die Hälfte. Jemand hat eine große blau-gelbe Ukrainefahne mitgebracht, vereinzelt ist die weiß-blau-weiße Flagge der russischen Kriegsgegner zu sehen. Es sind vor allem junge Menschen, die gekommen sind. Sie sitzen auf Picknickdecken, die Stimmung ist gelöst, anders als normalerweise bei politischen Veranstaltungen.

Mehr als 1350 politische Gefangene

Dabei geht es im Kern doch um Politik. Seit seiner Ankunft in Deutschland ist der 41 Jahre alte Jaschin kaum zur Ruhe gekommen. Unermüdlich gibt er Interviews, spricht über seine Pläne. „Ich sage ehrlich, bisher verstehe ich nicht, wie man russische Politik außerhalb Russlands machen kann“, gibt er in einem Gespräch mit dem russischen Exilsender „Doschd“ zu. Aber er wolle es lernen.

Dazu gehört auch der Auftritt im Mauerpark. Jaschin spricht viel über Emotionen und Gefühle, nennt aber wenig konkrete Vorhaben. Lange redet er über die Kraft, die er aus den Briefen seiner Unterstützer gezogen habe. Er spricht auch über diejenigen, die noch in russischen Haftanstalten sitzen. Freiwillige verteilen Flyer der Menschenrechtsgruppe OVD-Info. Demnach gibt es mehr als 1350 politische Gefangene in Russland.

Jaschin erinnert auch an Boris Nemzow, der 2015 vor dem Kreml erschossen wurde, und dessen enger Freund er war. Er spricht über Alexej Nawalnyj als ein Opfer von Wladimir Putins Herrschaft. Der Antikorruptionsaktivist und wichtigste russische Oppositionelle kam im Februar in einem sibirischen Straflager ums Leben. Viele sind überzeugt, dass es Mord war.

Putin ziehe eine blutige Linie durch Russland, die Ukraine und Belarus, sagt Jaschin. Als er über den Krieg spricht, ruft ein junger Mann: „Ihr seid alle bezahlt!“ Jaschin schmunzelt. „Ich habe schon von Putin-Verstehern gehört, aber noch nie einen in echt gesehen.“ Die Menge skandiert: „Putin, fick dich!“

Jaschin setzt auf Hoffnung, und Liebe. Liebe für seine Nächsten, für Schwächere. Als die Menschen „Liebe ist stärker als Angst“ rufen, antwortet er: „Liebe ist stärker als alles, auch als der Tod.“

Und tatsächlich scheint er den Anwesenden etwas Hoffnung zu geben. Polina etwa lässt sich von Jaschins Worten mitreißen. Die 37 Jahre alte Frau hat Russland mit ihrem Mann nach dem Großangriff auf die Ukraine verlassen. „Ich wollte mit eigenen Augen sehen, dass er lebt, dass er gesund ist“, sagt sie auf Russisch. Sie findet es gut, dass sich Jaschin gegen den Krieg äußert, sieht ihn als aufrichtigen Politiker an. Dann dankt sie der deutschen Regierung, dass sie ihn vor Putin gerettet hat. „Wir verstehen, dass es ein schwieriger Schritt war.“

Austausch gegen den Tiergartenmörder

Jaschin, 1983 in Moskau geboren, engagierte sich schon als Jugendlicher in der Politik. Er studierte Politikwissenschaft, wollte sich mit 22 Jahren in den Moskauer Stadtrat wählen lassen. Immer wieder demonstrierte er gegen Putin, wurde mehrmals verhaftet. Ende 2022 kam dann das Urteil über achteinhalb Jahren Haft, weil er „wissentlich falsche Informationen“ über Russlands Streitkräfte verbreitet haben soll. Er hatte in einem Youtube-Video über die russischen Kriegsverbrechen im ukrainischen Butscha gesprochen. In der vergangenen Woche kam er mit 15 anderen Inhaftierten im größten Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen seit dem Kalten Krieg frei.

Neben einigen, die wohl einfach nur den falschen Pass hatten und deshalb als Faustpfand für Putin herhalten mussten, waren unter den Freigekommenen auch Kremlkritiker. Dazu gehören Jaschin und Wladimir Kara-Mursa, der Menschenrechtsaktivist Oleg Orlow und Mitstreiter von Nawalnyj. Der Preis, den Deutschland zahlen musste, war die Freilassung des sogenannten Tiergartenmörders.

Oleg Orlow
Oleg OrlowJens Gyarmaty

Jaschin, Orlow und Kara-Mursa haben sich in den vergangenen Tagen kämpferisch gegeben. Man werde sich einsetzen, weitere Mitstreiter freizubekommen. Bei den russischen Emigranten, die an diesem Abend im Mauerpark sind, scheint das anzukommen. Immer wieder skandieren sie: „Freiheit für politische Gefangene!“ und „Russland wird frei sein!“

Stunden vor Jaschins Auftritt äußerte sich auch Oleg Orlow in Berlin. Wie Jaschin sprach er darüber, wie wichtig es sei, politischen Gefangenen zu schreiben. „Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, in Haft zu wissen, dass man nicht alleine ist und so viele Menschen aus verschiedenen Ländern an einen denken.“

Weder Orlow noch Jaschin oder Kara-Mursa wollten Russland verlassen. Das haben sie seit der Landung am Flughafen Köln-Bonn immer wieder gesagt. Ihre Geschichten ähneln sich. Ein paar Tage vor dem Austausch habe man sie aufgefordert ein Gnadengesuch an Putin zu unterschreiben. Sie weigerten sich. Dann seien von Geheimdienstmitarbeitern abgeholt worden. Niemand habe ihnen gesagt, wo es hingehe. Kara-Mursa, der schon zwei Vergiftungen überlebt hat, war sich sicher, er werde zu seiner Hinrichtung gebracht.

Am Mittwochabend spricht seine Mutter im Mauerpark. Jaschin hat sie eingeladen. Elena Gordon sagt: „Meine Schuld besteht darin, einen guten Menschen erzogen zu haben.“ Seit seiner Verurteilung im April vergangenen Jahres habe sie in der Hölle gelebt. „Meine persönliche Hölle ist jetzt vorbei, aber die Hölle, in der wir seit dem Februar 2022 leben, dauert an.“ Ihre Stimme stockt.

Keine Angst vor Putins Schergen

Angst, dass ihnen etwas in Deutschland passieren könnte, haben weder Jaschin noch Orlow. Der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, Dmitrij Medwedjew, hat ihnen schon gedroht. Auf seinem Telegram-Kanal schrieb er: „Sie sollen die Vergänglichkeit ihres Daseins in dieser Welt nicht vergessen.“ Sie sollten sich immer vorsichtig umzuschauen.

Orlow sagte dazu trocken, Medwedjew habe schon so viele Dummheiten gesagte, die sollte man nicht ernst nehmen. Auch Jaschin hatte schon bei „Doschd“ angekündigt, sich frei bewegen zu wollen. „Ich werde nicht mit Bodyguards durch Deutschland laufen.“

So steht er auch ungeschützt auf der Bühne, in Turnschuhen, schwarzer Hose, mintgrünem Hemd. Die Besucher konnten vor der Veranstaltung über Telegram Fragen stellen, gut hundert gingen ein. Nur wenige davon werden vorgelesen. Es geht um Belarus, wie Jaschin es geschafft habe, in Haft psychisch stabil zu bleiben und wie er die Opposition koordinieren wolle. Jaschin scherzt. Er bitte darum, wieder ins Gefängnis zu gehen, dort habe es wenigstens keine sozialen Medien gegeben. „Aber ich verspreche, dass ich auf Twitter keine Skrupel haben werde. Ich will eine konsolidierende Figur sein, jetzt ist nicht die Zeit für Streitereien.“

Der Leiter des Russlandprogramms der Friedrich-Ebert-Stiftung, Alexej Yusupov, warnt vor überzogenen Erwartungen. Den Begriff Exilopposition benutzt er dabei nur ungern. „Opposition suggeriert, es gäbe noch ein politisches Verfahren, in dem diese Menschen in einem geregelten Prozess an die Macht kommen könnten“, sagt er. „Und das ist ja völlig ausgeschlossen.“

Yusupov spricht eher von Widerstand, davon mit den Medien zu kommunizieren, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren, Geld zu sammeln. Nawalnyj habe das gekonnt. „Sogar aus dem Lager heraus hat er es hinbekommen, die Diskussion zu bestimmen.“ Das habe Nawalnyj seiner Meinung nach auch zum „unangefochtenen informellen Anführer“ der Exilrussen gemacht.

Es geht um Strategien

Ihm sei es gelungen, den Menschen ein Gefühl zu vermitteln, dass ihr Engagement in einem größeren Zusammenhang steht, eine Handlung von Punkt A zu Punkt B führt. „Das größte Problem des ausländischen Exils ist nicht die Abwesenheit von Mitteln oder von Persönlichkeiten, sondern ein Gefühl der Zwecklosigkeit“, sagt Yusupov. Als Beispiel nennt er die Proteste vor der Russischen Botschaft. „Das ist eine reine Symbolhandlung. Sie bewirkt nichts, sie hilft der Ukraine nicht, sie bringt uns nicht näher an das Ende des Putinregimes.“ Wenn es Jaschin gelänge, mit Ideen und Vorschlägen den Exilrussen ein Gefühl wie Nawalnyj zu vermitteln, könnte er in dessen Fußstapfen treten.

Den älteren Exilpolitikern, die einen Führungsanspruch formulieren, dürfte das nicht gefallen. Dazu gehört auch der in London lebende Michail Chodorkowski, der 2013 in einem Gefangenenaustausch freikam. Er sagte „Doschd“ vor wenigen Tagen: „Man darf keine Wunder von der Opposition erwarten“ Auf die Frage der Moderatorin, ob er sich vorstellen könne, mit Jaschin und den anderen zusammenzuarbeiten, antwortete er, dass sie alle unterschiedliche Ansichten hätten. Was sie eine, sei der Wunsch nach einer friedlichen Zukunft, nach einem Ende des Krieges, ein demokratisches Land aufzubauen. „Auf dieser Basis sollten wir eine Koalition bilden.“

Yusupov meint, dass es nun auch zu einem Generationenstreit unter den Emigranten kommen könnte. Die Jüngeren erwarteten nicht nur eine Losung, sondern eine konkrete Strategie. Diese zu entwickeln brauche wiederum Jahre. Auf dem Weg dorthin könne man auch Menschen verlieren. „Es gibt die ersten Emigranten, die zurück nach Russland gehen.“ Andere, die bleiben, kümmerten sich irgendwann eher um ihre Integration als um politisches Engagement.

„Mein Traum von Russland ist ein friedliches Land“

Am Ende seines Auftritts beschreibt Jaschin das Russland, wie er sich es vorstellt. „Mein Traum von Russland ist ein friedliches Land, in dem die Menschen frei leben und keine Angst haben auf die Straße zu gehen. Dass Eltern die keine Angst haben, ihre Kinder zu erziehen und keine Angst haben, dass Putin kommt, ihr Kind in die Armee schickt und im Krieg verheizt wird.“

Nicht alle finden das so überzeugend wie Polina. Zwar wollte auch der Architekturstudent Mark Jaschin mit eigenen Augen sehen. „Es freut mich zu sehen, dass Ilja sich jetzt frei fühlt.“ Als einen Anführer für die Exilopposition sieht der Student ihn aber nicht. „Das habe ich von Anfang an nicht für möglich gehalten.“ Immerhin, sagt Mark, hat Jaschin versprochen, sich für die Rechte der geflohenen Russen einzusetzen. Das würde schon helfen.

Auch die 55 Jahre alte Anna Shibarova ist skeptisch. „Da ist jemand aus dem Gefängnis gekommen, der möchte was machen, der möchte in die Politik.“ Allerdings sei deutlich geworden, dass Jaschin noch Zeit brauche, um anzukommen. „Er wirkte sehr emotional, aber hat kaum etwas Konkretes gesagt.“

Neben ihr steht Sergej Lukaschewski. Der Menschenrechtsaktivist und Historiker war bis 2023 Leiter des Moskauer Sacharow-Zentrums. Er fand Jaschins Auftritt ehrlich. „Wenn er etwas sagt, kann man es ihm glauben.“ Um jetzt die Opposition zu organisieren, brauche es einen Mediator, jemanden, der mit allen sprechen kann, sagt er. Mit Politikern, Aktivisten und einfachen Leuten. Immerhin habe Jaschin „moralisches Kapital“. Er hat nicht nur Briefe geschrieben, er hat sein Leben riskiert. „Das ist ein großer Unterschied.“

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