MEMPHIS REISEN
Grosse Pyramide von Gizeh

Entdecke die Magie des Moments!

Folgen Sie
s

MEMPHIS REISEN

Deutschland und Krieg: Will ich für mein Land kämpfen?

Erst vor kurzem habe ich wieder „Im Westen nichts Neues“ gelesen. Am Ende habe ich mit den Tränen gekämpft. Im Krieg, der in diesem Roman fast schon überzeitlich dargestellt wird und den ich als westdeutsches Kind der späten Neunzigerjahre nur aus Zeitung, Büchern und Fernsehen kenne, gibt es keine Gewinner. Bei Erich Maria Remarque nicht, im Nahen Osten nicht, in der Ukraine nicht.

Die Frage, für was man zu kämpfen, das heißt im schlimmsten Fall zu sterben bereit wäre, ist eine zutiefst persönliche. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ hat die Frage „Wollen wir überhaupt kämpfen?“ im Kontext des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine verschiedenen Autoren gestellt. Zwei haben bisher geantwortet. Der 26 Jahre alte Podcaster Ole Nymoen machte klar, für „fast gar nichts“ kämpfen zu wollen, Artur Weigandt, ein dreißig Jahr alter Schriftsteller und Journalist, erwiderte hingegen, „notfalls auch zu schießen, um die Freiheit zu verteidigen“.

Die Ukraine verteidigt unsere Freiheit

Nun ist für mich der Krieg etwas, vor dem ich Angst habe. Ich kenne ihn nicht. Er passiert entweder weit weg, das heißt außerhalb meiner konkreten Lebensrealität oder kostete lange vor meiner Zeit Menschen ihr Leben. Jedenfalls ist er nicht da, wo ich bin. Die Frage, ob ich mein Land verteidigte, wenn es darauf ankäme, ist für mich daher eine theoretische. Und dafür bin ich dankbar. Die Frage ist erstens theoretisch, weil ich nicht weiß, was Krieg ist oder, besser, was es heißt, im Krieg oder gar an der Front zu sein. Zweitens, weil es aktuell, dank der ukrainischen Streitkräfte, der westlichen Unterstützung der Ukraine und der NATO als Abschreckungsbündnis nicht danach aussieht, als ob die russische Armee bis an die Oder – oder gar weiter vordringt.

Klar ist: Die ukrainischen Soldaten verteidigen unsere Freiheit, die Freiheit Europas, die Freiheit Deutschlands, die freie Lebensweise. Dächte jeder wie Nymoen, der in seinem Text übrigens allerlei Dinge diskutiert, die mit der ethischen Dimension der gestellten Frage wenig zu tun haben, hätte Russland die Ukraine längst überrollt. Wenn jeder so dächte, wäre es der russischen Armee ein Leichtes, auch das Baltikum und Polen einzunehmen, dann Deutschland und schließlich womöglich ganz Europa.

Die zweite mögliche Folge von Ny­moens Position wäre folgende: Man vertraute darauf, dass andere, namentlich Soldaten und solche, die im Falle einer Mobilmachung nicht flöhen, unser Land und Europa schon verteidigten, während man selbst Deutschland verließe und versuchte, dem Krieg zu entkommen. Dies ist auf Grundlage vernünftiger ethischer Maßstäbe nicht argumentierbar. Man sollte, ohne eine philosophische Grundsatzdiskussion vom Zaun brechen zu wollen, gerade in solch wichtigen Entscheidungen, nur solche Maßstäbe an sein eigenes Handeln anlegen, die man für jeden als wünschenswert erachtete.

Die Verweigerung des Kampfs führt ins Nichts

Das Problem in der Argumentation liegt nach meinem Dafürhalten wie folgt: Entweder das liberale, demokratische Europa würde überrannt, oder man machte sich ethisch schuldig.

Kommen wir noch einmal zur ersten Option, die besagt, für „fast gar nichts“ kämpfen zu sollen. Sie ist zwar rein logisch begründbar. Im Detail allerdings wäre doch zu klären, was mit diesem „fast“ gemeint ist. Ny­moen lässt daran keinen Zweifel. Er würde „ganz sicher nicht für ‚mein Land‘, nicht für diesen Staat, und auch nicht für Europa“ in den Krieg ziehen. Weil er also nicht für Europa oder Deutschland zu kämpfen bereit wäre, entstünde durch die wohl drohende Auslöschung des uns bekannten Kontinents für seine Position kein Widerspruch.

Dennoch führt sie ins Nichts. Denn die Freiheiten, die ich heute in diesem demokratischen Deutschland und Europa genießen kann, wären mit einer solchen Haltung zunächst historisch nie errungen worden. Menschen sind jahrhundertelang auf die Straßen gegangen und kämpften und starben für eine Gesellschaft, in die ich das Glück hatte, hineingeboren worden zu sein. Diese Gesellschaftsform, die liberale Demokratie, musste gegen große Widerstände erkämpft und muss immer wieder gegen ihre Feinde verteidigt werden. Kann sie sich nicht verteidigen, wird sie vernichtet. Dabei ist sie das Beste, was die Menschheit bisher hervorgebracht hat. Was bliebe von ihr übrig, wenn sie, die mir geschenkt worden ist, sich nicht verteidigte? Und weil sie nicht ahistorisch und im luftleeren Raum existiert, sondern durch Menschen stets reproduziert werden muss, muss die Frage lauten: Was bliebe von ihr, wenn die Menschen – das hieße auch ich – sie nicht verteidigten? Dabei geht es nicht um einen blinden Patriotismus, sondern um die von Nymoen verneinte Frage, ob es etwas Verteidigungswürdiges an Deutschland gibt.

Das sehe ich anders. „Deutschland“ – definiert als westliche liberale demokratische Lebensweise, Kultur und Verfassungsstaat – ist es wert verteidigt zu werden. Hier schließen sich zwei neue Fragen an: Warum ist das so, und was heißt „verteidigen“ konkret? Die Werte sind es wert, weil es in einem von Russland kontrollierten Staat keine Freiheit gäbe. Ich kann und möchte nicht an einem Ort leben, an dem ich nicht tun, sagen, denken oder schreiben kann, was ich will.

Der Kampf für Deutschland lohnt sich deshalb und ist ethisch geradezu zwingend. Bleibt die Frage, was dieser Kampf konkret bedeutete. In einer Diskussion sagte mir neulich ein Freund, man könne ja im Land bleiben, und sich dann, wenn ein Großteil des eigenen Landes besetzt und der Krieg vorüber sei, etwa durch zivilen Ungehorsam widersetzen. Auch dieses Argument teile ich aus mindestens zwei Gründen nicht. Erstens setzt es voraus, dass man, solange man nicht als Soldat an der Front kämpfen muss, sicher sein kann, also überhaupt solange überlebt, bis wieder Frieden herrscht.

Der Krieg hebt die Trennung von Soldaten und Zivilisten auf

Das ist angesichts der Zehntausenden zivilen Opfer in der Ukraine ein höchst riskantes Unterfangen und unterschätzt, nach allem was wir aus der Ukraine wissen, die Tatsache, wie sehr ein Krieg ein Land als Ganzes durchdringt. Die Trennung zwischen Soldaten auf der einen und Zivilisten auf der anderen Seite scheint, wenn das eigene Land angegriffen wird, nicht haltbar.

Zweitens verschiebt diese Sichtweise das Risiko, zwischen dem eigenen Tod und dem Töten entscheiden zu müssen, nur zeitlich nach hinten. Wer den Krieg überlebt, sich dann aber den Besatzern widersetzt, wird gleichermaßen zur Zielscheibe. Im Übrigen ist der Weg zurück zu einer freien Gesellschaft viel länger, wenn man mit dem Widerstand bis zur Besatzung wartet und nicht von vornherein kämpft.

Bleibt das Argument meines Freundes, dass er keine Menschen töten möchte. Wie alle Punkte in dieser Debatte ist auch dieser legitim. Es ist ja nun aber nicht so, dass es nur die Wahl zwischen Gewehr und Flucht gibt. Man kann die freiheitliche Lebensweise verteidigen, ohne zur Waffe greifen zu müssen, etwa als Sanitäter, Koch oder Betreuer von Alten und Kindern. Freilich gilt jedoch: Eine solche Haltung wird nicht jedem möglich, eine Front nur mit Sanitätern oder Köchen nicht zu halten sein.

Mir scheint also kein Weg daran vorbeizuführen, im Ernstfall zu kämpfen. Weigandt, der für die Freiheit kämpfen würde, schreibt in seinem Beitrag, dass man in der Ukraine sehe, was es heiße, besetzt zu sein. Letztlich stelle man sich dort nur folgende Fragen: „Bleibe ich und kämpfe, bleibe ich und arbeite für die Front – oder fliehe ich?“

Mehr Optionen gibt es nicht. Die Flucht scheidet aus, weil sie, voraus­gesetzt als allgemeine Handlungsweise eines jeden, den Untergang der freiheit­lichen Lebensweise in Europa bedeutete. Es bleibt, streng argumentiert, nur der Kampf, an der Front oder für sie, auch wenn mir, so ehrlich muss ich sein, nicht klar ist, ob ich dazu bereit wäre. Ich schreibe hier als Unwissender – in der bequemen Position des Konjunktivs. Wird dieser zur Realität, muss ich mich entscheiden, und zwar schnell.

Post a Comment

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

English
Hallo! Fragen? Wir sind hier 🙂
error: Content is protected !!