Asylpolitik: Über das Angebot von Merz muss Scholz nachdenken
Für neun Minuten hatte Friedrich Merz das Kanzleramt für sich allein. Oder besser gesagt: ohne den Hausherren. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag war am Dienstagmorgen überpünktlich, um 8.52 Uhr, zum Treffen mit Kanzler Olaf Scholz erschienen. Dieser fuhr um 9.01 Uhr vor. Anschließend sprachen die beiden eine gute Stunde miteinander. Den weitaus größten Teil der Zeit ging es darum, wie auf den Anschlag eines abgelehnten syrischen Asylbewerbers in Solingen mit Toten und Verletzten zu reagieren sei.
Nachdem Merz – als ordentlicher Parteivorsitzender – zunächst das CDU-Präsidium informiert hatte, kam er nachmittags in die Bundespressekonferenz. Es wurde schnell klar, dass das Treffen mit Scholz zwar – wie Merz sagte – „atmosphärisch“ gut war, es jedoch keine konkreten Ergebnisse brachte. Merz begründete sein Dringen darauf, mit Scholz eine Einigung zu finden, mit starken Worten. Die Sache sei ihm deswegen so wichtig, weil er fürchte, dass die Menschen den demokratischen Parteien nicht mehr vertrauten. Merz sagte: „Dem Bundeskanzler entgleitet mittlerweile das Land.“
Merz will illegale Migration „auf Null“ begrenzen
Der Vorsitzende der Unionsfraktion hatte einen konkreten Vorschlag dabei. Scholz und er sollten jeder eine Person benennen, die dann besprechen sollten, was man miteinander in der Migrationspolitik zügig ändern könne. In der nächsten Sitzungswoche des Bundestages könnten schon Beschlüsse gefasst werden. Merz schlug in der Pressekonferenz vor, von Unionsseite könnte das der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, machen.
Der CDU-Vorsitzende berichtete allerdings auch, dass Scholz nicht auf diesen Vorschlag eingegangen sei, sondern sich Bedenkzeit erbeten habe. Merz wollte am Dienstag nicht ausschließen, dass der Kanzler in den nächsten Tagen doch noch auf den Vorschlag eingeht. Der CDU-Vorsitzende erweckte den Eindruck, dass er eine Einigung mit der SPD eher für möglich halte als mit den Grünen und der FDP. Er rechnete vor, dass die von ihm geführte Fraktion und die sozialdemokratische allein eine deutliche Mehrheit im Bundestag hätten.
Inhaltlich machte Merz deutlich, dass er vor allem die illegale Migration begrenzen, am liebsten „auf Null“ zurückführen wolle. Auch Scholz habe in ihrem Gespräch diesen Willen geäußert. Die sogenannte Dublin-Regel müsse wieder gelten, es müssten also Personen, die in einem anderen EU-Land als Deutschland erstmals die EU betreten hätten, auch dort Asyl beantragen. Dazu müsse es möglich gemacht werden, sie an der deutschen Grenze zurückzuweisen. Sollte das mit dem europäischen Recht nicht gehen, müsse dieses eben geändert werden. Die Bundespolizei soll nach dem Willen von Merz mehr Befugnisse bekommen, etwa bei anlasslosen Kontrollen. Auch solle man ihr die Möglichkeit geben, bei einer gescheiterten Abschiebung einen Antrag auf Ausreisegewahrsam zu stellen.
Politiker seien nicht dazu da, zu beschreiben, was alles nicht möglich sei, sagte Merz mehrfach. Vielmehr müssten sie die erforderlichen Änderungen voranbringen.
Scholz sagte am Dienstagabend auf einer Wahlkampfveranstaltung in Jena, es sei „richtig, wenn auch der Oppositionsführer im Deutschen Bundestag Zusammenarbeit anbietet bei der Reduzierung der irregulären Migration“. Indirekt wies er allerdings den Vorstoß von Merz zurück, dass Union und SPD im Bundestag Gesetze beschließen könnten ohne die Grünen und die FDP. Regierung und Opposition sollten nicht „quer durcheinander“ arbeiten.
Doch nicht nur Scholz und Merz diskutierten. Politiker der FDP brachten am Dienstag den Vorschlag auf, ausreisepflichtigen Asylbewerbern alle Sozialleistungen zu streichen und damit zur Ausreise zu bewegen, einen Vorschlag, den auch Merz erwähnte. „Wenn jemand nicht hierbleiben darf, darf er auch keine Sozialleistungen bekommen“, sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Konstantin Kuhle dem „Stern“.
Alleinstehende Asylbewerber haben in Deutschland nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Anspruch auf 460 Euro im Monat, wenn sie in Gemeinschaftsunterkünften oder Wohnungen leben. In den ersten Wochen und Monaten in der Erstaufnahmeunterkunft erhalten sie ihren Anspruch überwiegend in Sachleistungen. Einige Länder in Europa zahlen weniger Geld während der Antragsphase an Asylbewerber, einige mehr. Nach 36 Monaten Aufenthalt in Deutschland steigen die Zuschüsse, Alleinstehende erhalten dann 563 Euro, also so viel wie Bürgergeldempfänger. Das gilt auch für abgelehnte Asylbewerber, solange sie sich in Deutschland aufhalten.
FDP: Keine Sozialleistungen für abgelehnte Asylbewerber
Die Idee, über Leistungskürzungen einen Anreiz zur Ausreise zu schaffen, haben Bund und Länder schon länger. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sprach schon im März 2023 davon, eine „kritische Bestandsaufnahme“ bei den Sozialleistungen machen zu wollen. Eine Verschärfung müsste dann aber auch einer möglichen Prüfung des Bundesverfassungsgerichts standhalten. Das hatte es Ende 2022 für rechtswidrig erklärt, dass alleinstehende erwachsene Asylbewerber in Sammelunterkünften zehn Prozent niedrigere Leistungen erhalten.
In der Bund-Länder-Runde im November vergangenen Jahres stand das Thema ebenfalls auf der Tagesordnung. Offenbar sah man auch damals die rechtlichen Schwierigkeiten einer Verschärfung. Statt Leistungen zu kürzen, einigte man sich nämlich auf die Einführung einer Bezahlkarte, um Asylbewerbern weniger Bargeld zur Verfügung zu stellen. Eine bundeseinheitliche Karte gibt es aber immer noch nicht. Schneller ging es bei dem November-Beschluss, nicht mehr wie bislang 18 Monate reduzierte Leistungen an Asylbewerber zu zahlen, sondern 36 Monate lang. Im Februar war eine entsprechende Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes beschlossen worden.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sprach am späten Montagnachmittag in Berlin von einem „Dreiklang“, an dem die Bundesregierung jetzt arbeite. Zusammen mit Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte er das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum besucht. Man müsse sich darüber unterhalten, wie Menschen, für deren Asylverfahren ein anderer Staat zuständig ist, schneller überstellt werden könnten, sagte Buschmann. Der mutmaßliche Attentäter von Solingen sollte nach Bulgarien überstellt werden, weil er dort in die EU eingereist war. Nachdem Mitarbeiter der Ausländerbehörde ihn nicht in seiner Flüchtlingsunterkunft angetroffen hatten, verstrich die Überstellungsfrist.
Lenkt Justizminister Buschmann ein?
Buschmann plädierte auch dafür, Islamismus und Dschihadismus noch stärker zu bekämpfen. Man werde darüber beraten, welche Mittel die richtigen seien. Über den mutmaßlichen Attentäter von Solingen ist noch nicht bekannt, wann, wo und auf welche Weise er sich radikalisiert hat – ob noch in Syrien oder zu einem späteren Zeitpunkt.
Seit dem Wochenende zeigt sich Buschmann bereit, über eine Verschärfung des Waffenrechts zu sprechen. Verschiedene Maßnahmen, die Faeser mit Blick auf Schusswaffen und Messer anstrebt, lehnte die FDP bislang ab, sprach von unnötiger Symbolpolitik. Die Bundesinnenministerin setzt sich etwa dafür ein, dass nur noch Messer mit einer Klingenlänge bis sechs Zentimeter bei sich geführt werden dürfen; bislang sind es zwölf. Von Buschmann geht nun das Signal aus, sich den Debatten nicht zu verschließen. Es dürfe „keine Tabus“ geben, sagte er am Montag. Er weist allerdings auch darauf hin, dass schon die bestehenden Verbote die Tat von Solingen nicht verhindert haben. Die Klinge des Tatmessers ist offenbar 15 Zentimeter lang gewesen.
Werden Union und Ampel das Problem gemeinsam in den Griff bekommen? Merz sagte, er würde sich wünschen, dass es nicht mehr zum großen Thema der Bundestagswahl im nächsten Jahr wird. Ob das klappt, bleibt abzuwarten. Die Beobachtung, dass Merz mit Krawatte ins Kanzleramt gekommen sei, dieses aber ohne verlassen habe, wollte der CDU-Vorsitzende jedenfalls nicht als Zeichen allzu großer Annäherung interpretieren. Man habe nicht nur miteinander gesprochen, sondern auch gefrühstückt. Da habe er zum Schutz seiner Krawatte diese abgenommen.