Besuch am Grab des Kreml-Gegners: „Ich glaube, Leute werden Nawalnyjs Beispiel folgen“
Auf Alexej Nawalnyjs Grab liegen Blumen der Trauer, Nelken und Chrysanthemen, neben Tulpen als Frühlingsboten. So viele sind es, dass das Holzkreuz gleich hinter dem Eingang zum Borissowo-Friedhof im Südosten von Moskau unter dem mannshohen Berg fast verschwunden ist. Daneben quillt ein zusätzliches Podest auch schon vor Blumen über.
Wer mit den Menschen spricht, die ununterbrochen zum Grab kommen, spürt ihre Trauer, aber auch ihre Hoffnung, ihr Zögern, aber auch ihre Entschlossenheit, sieht sie weinen, aber auch lächeln. Es herrscht Frost und über anderen Gräbern türmt sich noch Schnee, aber der Himmel ist blau und die Sonne lässt den Frühling erahnen. Von einer Laterne krächzt eine Krähe, von einer Birke zwitschert eine Meise.
Neben den Blumen liegen Zettel mit Dankesworten
Den Machtapparat, der den wichtigsten innenpolitischen Gegner von Präsident Wladimir Putin zu Lebzeiten mit einem Großaufgebot bewachte, verkörpert nun ein einzelner, stämmiger Nationalgardist im schwarzgrauen Flecktarn. Er lenkt den Menschenstrom zu Nawalnyjs Grab durch die Friedhofspforte statt durch das Tor daneben.
Am vergangenen Freitag ist Nawalnyj hier unter der Anteilnahme Tausender, vermutlich Zehntausender bestattet worden. Es war wie ein fernes Echo des „Frühlingsmarschs“ der Opposition, der auf den Tag genau neun Jahre zuvor nach der Ermordung von Boris Nemzow zum Gedenkzug geworden war. Nawalnyj konnte damals nicht um seinen Mitstreiter trauern, er saß gerade eine Arreststrafe ab. Jetzt reißt der Strom der Besucher an sein eigenes Grab nicht ab.
In den ersten Tagen bildeten sich noch lange Schlangen vor dem Friedhofseingang. Auch an diesem Nachmittag sind stets Leute am Grab. Auf den Zetteln, die neben den Blumen liegen, stehen Dankesworte und Nawalnyj-Sätze wie die, dass Liebe stärker sei als Angst und dass das Böse triumphiere, wenn gute Menschen untätig blieben.
Auf den Zetteln, die neben den Blumen liegen, stehen Dankesworte und Nawalnyj-Sätze wie die, dass Liebe stärker sei als Angst und dass das Böse triumphiere, wenn gute Menschen untätig blieben.
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Bild: Friedrich Schmidt
Die 18 Jahre alte Marija ist mit ihrer Mutter gekommen, sie haben Tulpen mitgebracht. Marija hat das Gefühl, eine „Stütze“ verloren zu haben, jemanden, der „immer lächelte, was er auch durchmachen musste. Russland muss genauso werden, mit Lächeln und Liebe“, sagt sie. Vor der Beerdigung habe sie das Gefühl gehabt, „dass wir sehr wenige sind“. Jetzt sei es besser.
Standbild aus einer Videobotschaft auf X von Julia Nawalnaja, Witwe des russischen Oppositionsführers Alexey Nawalnyj
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Bild: dpa
Auf den Borissowo-Friedhof ist an diesem Tag auch Konstantin Kotow gekommen, ein Moskauer Ende 30, der 2018 für Nawalnyj als Wahlbeobachter arbeitete und bald darauf nach friedlichen Protestaktionen für ehrliche Wahlen zum Moskauer Stadtparlament wegen „mehrfachen Verstoßes gegen Versammlungsrecht“ eineinhalb Jahre inhaftiert wurde. Die meiste Zeit verbrachte er in einem Straflager hundert Kilometer östlich von Moskau, in dem später auch Nawalnyj eine Zeit lang festgehalten wurde.
Kotow sieht ein Zeichen der Hoffnung darin, dass die Menge am Tag der Beerdigung Slogans wie „Russland wird glücklich sein“ skandierte, die Nawalnyj selbst erdachte. „Ich glaube, Leute werden seinem Beispiel folgen“, sagt er. „Sie haben gesehen, wie Alexej all diese Jahre sogar hinter Gittern gekämpft und nicht aufgegeben hat.“ Wenigstens ein Teil dieser Leute werde in Russland bleiben und nach dem „wunderbaren, glücklichen Russland der Zukunft streben, für das Alexej Nawalnyj sein Leben gelassen hat“.
So bekommt das Gedenken eine politische Note. An der Friedhofsmauer schreibt ein junger Mann mit Zylinder den Slogan für die Aktion bei der Scheinwahl unter eine Solidaritätsadresse an Nawalnyjs Witwe und Kinder auf ein Blatt Papier. Dann geht er zum Grab, nimmt den Zylinder ab, legt den Zettel und Blumen auf das Grab, verweilt kurz und verlässt dann den Friedhof. Vom Parkplatz ruft er so laut, dass es alle hier hören können, auch der einsame Nationalgardist: „Nawalnyj, Nemzow, danke für euren Kampf! Wir geben nicht auf!“