Die Anleger ignoieren alle Warnzeichen: Ein heikle Börsenphase beginnt
Die Vorfreude gilt bekanntlich als die schönste Freude. So ist es auch an der Börse. Da können führende Notenbanker noch so sehr vor übertriebenen Zinssenkungsphantasien warnen. An den Märkten perlt das ab. Am Wochenende starteten Bundesbankpräsident Joachim Nagel im Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und Fed-Präsident Jerome Powell im Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender CBS einen neuen Versuch, die Erwartungen einzufangen. Nagel sagte: „Noch sind die Preisaussichten aus meiner Sicht nicht eindeutig genug: Deshalb ist es für Zinssenkungen jetzt zu früh.“
In der Medizin wie in der Geldpolitik sei es wichtig, den Patienten genau im Auge zu behalten. „Die Dosis darf nicht zu früh reduziert und das Erreichte nicht aufs Spiel gesetzt werden“, sagte Nagel. Powell sagte: „Der Job ist noch nicht erledigt.“ Es sei am klügsten, sich mit dem Zinsschritt noch etwas Zeit zu lassen. „Die Daten müssen einen nachhaltigen Rückgang der Inflation auf den Zielwert von zwei Prozent bestätigen“, sagte der Präsident der amerikanischen Notenbank.
An den Zinserwartungen an den Märkten hat sich dadurch am Montag nichts geändert. Rund fünf Zinssenkungen werden weiterhin für die nächsten zwölf Monate diesseits und jenseits des Atlantiks erwartet. Ob es nun im März oder doch erst im Juni losgeht, ist den Märkten egal. Stichwort Vorfreude. Wichtiger ist es, dass sich an der generellen Grunderwartung nichts ändert. Und hier nehmen die Börsen seit Oktober eine sehr optimistische Position ein. Sie setzen auf das berühmte Goldlöckchen-Szenario, angelehnt an eine englische Erzählung aus dem 19. Jahrhundert, wonach der moderate Mittelweg als Ideal gilt. Für die Bären im Märchen soll der Brei nicht zu heiß und nicht zu kalt sein und der Stuhl nicht zu hart und nicht zu weich.
Wahlen in Amerika
Und genau auf ein solches Szenario spekulieren die Anleger in der aktuellen Hausse an den Märkten, die den Dax am Freitag auf rekordhohe 17.004 Punkte hievte und auch der Wall Street derzeit fast täglich neue Höchststände beschert. Erwartet wird ein Rückgang der Inflation auf ein moderates Niveau, das den Notenbanken einige Zinssenkungen erlaubt, ebenfalls auf ein angenehmes Niveau, während sich das Wirtschaftswachstum gerade so belebt, dass es den Unternehmen steigende Gewinne und Umsätze beschert, ohne gleich wieder neue Inflationsängste heraufzubeschwören.
Ein solches Szenario kommt selten vor und ist meist nur von kurzer Dauer. Alle möglichen denkbaren Risiken können einen Strich durch die Rechnung machen, ganz zu schweigen von den besonders fiesen Ereignissen, die niemand auf der Rechnung hat.
Derzeit werden viele Warnsignale schlicht ignoriert. Am Freitag fiel der Januar-Arbeitsmarktbericht aus Amerika derart positiv aus, dass schon sehr viel Autosuggestion dazugehörte, ihn nicht als ein klares Zeichen dafür zu sehen, dass die amerikanische Wirtschaft sich auch dieses Jahr stärker als gedacht entwickeln könnte – mit höheren Löhnen, die dann höhere Preise hervorrufen und letztlich die Fed zu weniger oder gar keinen Zinssenkungen veranlassen.
Auch die nicht ausgestandene Krise der US-Regionalbanken wird bisher ignoriert. Die New York Community Bank, die im Frühjahr 2023 die strauchelnde Signature Bank aufgenommen hatte, musste für das vierte Quartal 2023 einen Verlust von 252 Millionen Dollar melden und die Dividende um 70 Prozent kürzen. Die Anleger schickten die Aktie zwei Tage lang mit einem Kursverlust von 45 Prozent auf Talfahrt. Neben Kreditausfällen auf dem US-Gewerbeimmobilienmarkt machen der New York Community Bank die höheren Einlagenzinsen zu schaffen, die sie Sparern bieten muss, damit diese ihr Geld nicht abziehen.
Gesundheit, Nahrungsmittel und Körperpflege
Nach dem kräftigsten und schnellsten Zinsanstieg in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte stechen zudem viele Risiken auf dem Immobilienmarkt ins Auge. Vielen Projektentwicklern geht angesichts der durch die Inflation gestiegenen Baukosten und der erhöhten Zinskosten schlicht das Geld aus. Die Signa-Gruppe von René Benko ist dafür nur ein prominentes Beispiel – die Kreditausfälle bei den Banken nehmen gerade im Immobiliengeschäft zu. Hinzu kommt die zögerliche Haltung vieler Angestellter, nach der Covid-Pandemie in die Büros zurückzukehren. Nach Daten von Moody’s Analytics standen in den USA im vierten Quartal 2023 so viele Büros leer wie noch nie, die landesweite Leerstandsquote wird mit 19,6 Prozent angegeben. In China muss gerade mit Evergrande einer der größten Immobilienkonzerne abgewickelt werden. Aus deutschen offenen Immobilienfonds wird seit Monaten Geld abgezogen – noch nicht auf besorgniserregendem Niveau, aber mit deutlich steigender Tendenz.
Bisher werden die Warnzeichen an den Märkten nicht ernst genommen und als beherrschbar zu den Akten gelegt. Die Analysen aus den Banken befassen sich daher eher mit dem Thema, wer die größten Gewinner der Zinswende sind; nicht die der erfolgten Zinswende, sondern der nun erwarteten Senkungsrunden. Die Fachleute des britischen Vermögensverwalters Schroders haben alle 22 Zinssenkungsphasen seit 1928 untersucht: Im Schnitt gab es mit Aktien 11 Prozent Rendite oberhalb der Inflation zu erzielen und gut 5 Prozent mehr als mit Anleihen.
Der Vermögensverwalter HQ Trust aus Bad Homburg hat in einer Sektoranalyse für die jüngsten 13 Zinssenkungsphasen festgestellt, dass defensive Sektoren wie Gesundheit, Nahrungsmittel und Körperpflege besonders gut abschnitten, Rohstoffe und Energie waren indes die Verlierer. Und auch Technologieaktien schnitten oft unterdurchschnittlich ab.
Die sind bislang noch Treiber der aktuellen Aufwärtsbewegung. Meta will erstmals Dividende zahlen, auch Amazon schwimmt in Unmengen Geld. Anleger, die auf Bewertungen schauen, schütteln schon lange mit dem Kopf. Doch es überwiegt an den Märkten ganz eindeutig Wachstumseuphorie, die allein schon durch die beiden Buchstaben KI ausgelöst wird.
„Für langfristige Investoren bleibt der US-Aktienmarkt aufgrund der großen Innovationskraft, der attraktiven Eigenkapitalrenditen und der hohen Wachstumschancen ein guter Ort, Kapital anzulegen – unabhängig davon, wer die Wahlen im November 2024 gewinnen wird“, sagt Jan Viebig, Chefvolkswirt der deutsch-französischen Bank Oddo BHF. Der Optimismus überwiegt bei allen Themen an den Börsen. Das erhöht die Fallhöhe und die Risiken.