Drohnen und Raketen: Irans großangelegter Angriff auf Israel
Gegen viertel vor zwei Uhr in der Nacht zum Sonntag ertönten die Warnsirenen am Toten Meer. Auch in Jerusalem und im südlichen Teil des Westjordanlands, im Norden Israels sowie in Teilen der Negev-Wüste im Süden wurde Alarm ausgelöst. In Jerusalem und mehreren anderen Städten waren Detonationen in der Luft zu hören. Der iranische Angriff auf Israel, der seit Tagen als Drohung im Raum gestanden war, hatte begonnen. Das Regime in Teheran wollte damit die Tötung eines ranghohen Kommandeurs der Revolutionsgarde vergelten, der in Damaskus vor eineinhalb Wochen ums Leben gekommen war, durch einen mutmaßlich von Israel ausgehenden Angriff.
Armeesprecher Daniel Hagari trat um drei Uhr vor die Kamera. Der Angriff sei eine „massive Eskalation“, sagte er. „Iran hat heute Nacht einen großangelegten koordinierten Angriff auf Israel durchgeführt.“ Ein „massiver Schwarm“ von „Killerdrohnen“ und Raketen unterschiedlichen Typs sei abgefeuert worden. Teheran habe „mehr als 300 Bedrohungen verschiedener Art losgeschickt“, sagte Hagari am Sonntagmorgen. Israel habe dabei 99 Prozent der Flugobjekte und Geschosse in Zusammenarbeit mit seinen Verbündeten abgefangen.
Laut Angaben Hagaris gab es lediglich kleinere Schäden auf einer Militärbasis in Israel. Tote gab es nicht, ein kleines Mädchen sei verwundet worden. Wie Israel auf den Angriff reagieren wird, blieb vorerst offen. Der Armeesprecher sagte nur, „zahlreiche Flugzeuge“ der israelischen Luftwaffe befänden sich in der Luft, „bereit, auf jede Bedrohung zu antworten“. In einem Gespräch mit Journalisten sagte er später: „Wir prüfen die Situation und zeigen dem Kabinett die Pläne, wir sind bereit, zu unternehmen, was für die Verteidigung Israels notwendig ist.“
Armeesprecher: Alle Drohnen und Marschflugkörper abgefangen
„Die iranische Bedrohung ist auf die israelische Überlegenheit in der Luft und im technologischen Bereich getroffen, in Kombination mit einer starken, kämpferischen Koalition, die gemeinsam den Großteil der Bedrohungen abgefangen hat.“ Hagari sprach von einem „sehr bedeutsamen strategischen Erfolg“. Von 170 unbemannten Flugkörpern, die der Iran losgeschickt habe, seien „null auf das israelische Gebiet vorgedrungen“. Dutzende seien von israelischen Kampfjets abgeschossen worden, von der israelischen Luftabwehr sowie „der Luftwaffe und Luftabwehr unserer Partner“. Auch von mehr als 30 Marschflugkörpern, die der Iran abgefeuert habe, sei keiner nach Israel eingedrungen.
Drohnen wurden offenbar außerhalb israelischen Territoriums zerstört. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien teilten mit, sie hätten sich an den Abwehrmaßnahmen beteiligt. Auch Jordanien soll Dutzende iranische Drohnen über seinem Territorium abgeschossen haben, bevor sie Israel erreichten, hieß es in Medienberichten. Frankreich beteiligte sich nach Angaben des Armeesprechers an der Überwachung des Luftraums, ob französische Kampflugzeuge auch Raketen abgeschossen haben, blieb zunächst offen.
Der israelische Präsident Izchak Herzog bedankte sich für die Hilfe der USA und anderer Staaten. „Segne die Koalition der Nationen unter der Führung der USA“ und ihrem Präsidenten, schrieb er auf der Plattform X.
Etwa zur selben Zeit bestellte in Washington Joe Biden ranghohe Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats in den Situation Room des Weißen Hauses, um die Lage zu erörtern. Eine Sprecherin des Sicherheitsrats bekräftigte die Position des Präsidenten, dass seine Unterstützung für Israels Sicherheit „unumstößlich“ sei. „Die Vereinigten Staaten werden an der Seite des israelischen Volkes stehen und es in der Verteidigung gegen diese Bedrohungen durch Iran unterstützen.“ Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verurteilte auf seinem Flug in Richtung China den iranischen Angriff „aufs aller Schärfste“.
Teheran unterstützte Huthi-Miliz in Jemen schaltete sich einem Bericht zufolge ein und feuerte ebenfalls Raketen in Richtung Israels ab. Auch die Hizbullah beteiligte sich an der Angriffswelle: Die libanesische Miliz beschoss laut eigenen Angaben eine Armeebasis auf den Golanhöhen.
Dass die Eskalation die gesamte Region betrifft, wurde auch an anderen Entwicklungen deutlich. Neben Israel schlossen auch Libanon, Jordanien und der Irak ihre Lufträume. Syrien aktivierte Luftabwehrsysteme um Damaskus und auf mehreren Militärbasen, vermutlich in Erwartung israelischer Gegenangriffe auf irantreue Kräfte. Auch in Ägypten wurde die Luftabwehr aktiviert.
„Wer uns schadet, dem schaden wir auch“
Zu jenem Zeitpunkt waren viele Details des Angriffs noch unklar. In manchen Berichten war von Dutzenden, in anderen von mehreren hundert Drohnen die Rede, die in mehreren Wellen auf den Weg nach Israel geschickt worden seien. Im Internet zirkulierten Aufnahmen eines Luftfahrzeugs mit Flügeln in Dreiecksform, das in niedriger Höhe flog. Das Aussehen ähnelte dem einer iranischen Drohne vom Typ Shahed.
Irans wiederholt. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte am Samstagabend – noch vor den Angriffen – in einer Ansprache, Israel habe sich in den vergangenen Jahren „und insbesondere in den vergangenen Wochen“ auf einen iranischen Angriff vorbereitet. Man sei sowohl defensiv als auch offensiv auf jedes Szenario vorbereitet. „Wir haben einen klaren Grundsatz festgelegt: Wer uns schadet, dem schaden wir auch“, sagte der Ministerpräsident. „Wir werden uns gegen jede Bedrohung verteidigen, und wir werden dies mit klarem Kopf und mit Entschlossenheit tun.“
Die Armee zeigte sich bemüht, die Bevölkerung auf den Ernst der Lage hinzuweisen und sie zugleich zu beruhigen. Zwar teilte sie am frühen Samstagabend mit, dass alle Schulen und Bildungseinrichtungen am Sonntag und am Montag präventiv geschlossen bleiben würden; Klassenfahrten und sonstige Aktivitäten fallen aus. Auch auf die Instruktionen für das Verhalten im Ernstfall wurden noch einmal hingewiesen. Zugleich sagte Armeesprecher Hagari in einer Pressekonferenz, Israel habe es seit dem Beginn des Gazakriegs im Oktober „mit einer Vielzahl von Bedrohungen“ zu tun gehabt, die von Irans Stellvertretern in der Region ausgegangen seien, in Form von Raketen und Drohnen. Israels Verteidigungs- und Angriffssysteme seien optimiert worden. „Die Israelischen Verteidigungskräfte sind an all ihren Fronten in Sachen Verteidigung und Angriff bestens vorbereitet.“ Aber auch wenn die Luftabwehrsysteme „exzellent“ seien, mahnte Hagari, seien sie dennoch „nicht hermetisch“.
Israels Armee hatte sich seit mehreren Tagen darauf vorbereitet, dass es zum ersten direkten iranischen Angriff auf Israel kommen könnte. Seit Freitag zirkulierte die Information, dass Iran sehr wahrscheinlich in der Nacht zum Sonntag attackieren werde. Amerikanische Geheimdienste unterrichteten mehrere andere westliche Dienste entsprechend. Das Ziel würden vermutlich militärische Einrichtungen sein, hieß es weiter.
Mehrere Länder verhängten oder verschärften daraufhin Reisewarnungen für die Region. Die Deutsche Botschaft in Tel Aviv ermahnte im Land lebende Deutsche am Freitag in einer E-Mail, sie sollten in der „aktuell angespannten Situation“ am Wochenende Überlandfahrten vermeiden und „in der Nähe Ihnen bekannter Schutzräume“ verbleiben.
Biden war vorzeitig aus dem Urlaub zurückgekehrt
Dass Biden am Samstagvormittag einen Wochenendurlaub abbrach und ins Weiße Haus zurückkehrte, wurde von Beobachtern als weiteres Zeichen gewertet, dass die Regierung einen bevorstehenden iranischen Angriff für wahrscheinlich hielt. Erst am Freitag hatte der Präsident das Regime in Teheran abermals vor einem solchen Schritt gewarnt: „Wir werden helfen, Israel zu verteidigen, und Iran wird keinen Erfolg haben“, sagte er. Zugleich merkte Biden an, er gehe davon aus, dass es „eher früher als später“ zu einem iranischen Angriff kommen werde. Auch die Außenminister mehrerer europäischer Länder, unter ihnen Annalena Baerbock, hatten in Telefongesprächen mit dem iranischen Außenminister versucht, Iran von seinen öffentlich verkündeten Angriffsplänen abzubringen.
Iran hatte über Tage hinweg immer wieder mit einem Angriff gedroht. Israel „muss bestraft werden, und es wird bestraft werden“, sagte der Oberste Führer Ali Khamenei am Mittwoch in einer Predigt am Eid al-Fitr, dem Fest zum Ende des Ramadans. Die aggressive Rhetorik war durch einen Vorfall hervorgerufen worden, der seinerseits einen weiteren Eskalationsschritt in dem seit Jahren währenden Schattenkrieg zwischen Israel und Iran darstellte. Am 1. April war Mohammad Reza Zahedi bei einem Luftangriff auf das iranische Konsulatsgebäude in Damaskus getötet worden. Zahedi war ein wichtiger Kommandeur der Al-Quds-Brigade, der für Auslandseinsätze zuständigen Einheit der Revolutionsgarde. Er soll für Syrien und Libanon zuständig und der Verbindungsmann zwischen Hizbullah-Generalsekretär Hassan Nasrallah und der iranischen Führung gewesen sein. Für diese stellt Zahedis Tod einen schweren Rückschlag dar.
Der Angriff auf Zahedi und mehrere weitere Generäle der Al-Quds-Brigaden wird gemeinhin Israel zugeschrieben. Es war zwar nicht das erste Mal, dass das Land Revolutionswächter ins Visier nahm. Dass dies nun in einer diplomatischen Vertretung Irans geschah, betrachteten viele als Eskalation – und Teheran sah damit eine „rote Linie“ überschritten. Das Regime schwor umgehend Vergeltung und deutete an, dass anders als in der Vergangenheit direkte Vergeltungsmaßnahmen geplant seien. In früheren Fällen hatte Iran sich mit solchen zurückgehalten, um nicht in einen direkten Krieg mit Israel verwickelt zu werden.
Israel lässt Reaktion auf Angriffe zunächst offen
Aus diesem Grund hatte es auch Spekulationen gegeben, ob Iran tatsächlich den Schritt wagen würde, Israel direkt zu attackieren. Aus Teheran waren dazu zwischenzeitlich widersprüchliche Signale gekommen. Die israelische Führung wiederum sprach wiederholt die Drohung aus, dass sie einen von Iran ausgehenden Angriff erwidern werde – ebenfalls auf iranischem Boden.
Irans Verteidigungsminister Mohammad Reza Ashtiani warnte in der Nacht schon Länder davor, ihre Lufträume für israelische Angriffe auf Iran zu öffnen. Die Islamische Republik werde darauf entschlossen reagieren, sagte er laut einem Bericht der halbstaatlichen Nachrichtenagentur Mehr. Diese Warnung dürfte vor allem in Jordanien aufmerksam registriert werden.
Irans Vertretung bei den Vereinten Nationen teilte unterdessen auf der Plattform X mit, der Angriff sei in Ausübung des legitimen Rechts auf Selbstverteidigung erfolgt: als Reaktion auf den israelischen Angriff auf die Vertretung in Damaskus. Die Angelegenheit könne damit „als abgeschlossen betrachtet werden“. Weiter heißt es allerdings: „Sollte das israelische Regime einen weiteren Fehler begehen, wird die Antwort Irans wesentlich härter ausfallen.“