EM 2024: Deutschland gewinnt Eröffnungsspiel gegen Schottland deutlich
Das Tempo, das Philipp Lahm 2006 vorgelegt hatte, erreichte die deutsche Nationalmannschaft nicht ganz. Es dauerte vier Minuten länger als zu Beginn jenes märchenhaften Sommers, bis der Ball am Freitagabend zum ersten Mal ins Netz sauste. Aber was sich danach entwickelte, war eine eigene, eine noch bessere Geschichte.
Nach 19 Minuten standen die deutschen Ersatzspieler in ihren gelben Leibchen an der Seitenlinie und spendeten Ovationen für einen wunderbar herausgespielten zweiten Streich, und ein paar Minuten später sang die Münchner Fußballarena schon „Oh, wie ist das schön“.
5:1 stand es am Ende des Eröffnungsspiels der Heim-Europameisterschaft gegen Schottland für das deutsche Team, nach Treffern von Florian Wirtz (10. Minute), Jamal Musiala (19.), Kai Havertz (45.+1, Foulelfmeter), Niclas Füllkrug (68.) sowie Emre Can (90.+3). Und schöner, lustvoller, leichter hätte es kaum aussehen können, was die Mannschaft von Julian Nagelsmann zu diesem besonderen Anlass in der Münchner Arena aufführte – nach der Pause begünstigt durch die Rote Karte gegen Ryan Porteous (44.) und allenfalls marginal getrübt durch das unglückliche Eigentor Antonio Rüdigers (87.).
Die Welle losgetreten
Wenn es der von Toni Kroos exzellent gelenkten Mannschaft gelingt, diese Mischung aus Spielfreude und Konzentration beizubehalten, gibt es keinen Grund, warum diese EM den Deutschen nicht noch weitere zauberhafte Momente bescheren sollte. Weiter geht es am Mittwoch in Stuttgart gegen Ungarn und am Sonntag in Frankfurt gegen die Schweiz, und man darf gespannt sein, was bis dahin aus der Welle wird, die Nagelsmann und seine Spieler am Freitag losgetreten haben.
Die Größe der Aufgabe hatte er sich am Vorabend durchaus anmerken lassen, mit 36 Jahren und seinem erst neunten Länderspiel könnte man ihn noch für einen Junior-Bundestrainer halten, aber kleiner als nötig macht er sich und seine Botschaften schon auch nicht. Jene vor dem EM-Auftakt bestand noch einmal in einem Aufruf an das ganze Land, hinter der Mannschaft zu stehen.
Die Atmosphäre im Stadion war dann herausragend, die rund 10.000 Schotten brachten einen gehörigen „Roar“ in die Arena, die Fans der deutschen Mannschaft machten von ihrer Überzahl Gebrauch, nachdem Heidi Beckenbauer, die Witwe des „Kaisers“, und die EM-Spielführer von 1980 und 1996, Bernard Dietz und Jürgen Klinsmann, den Pokal auf den Rasen getragen hatten.
Diejenigen, auf die es dann ankam, waren die erwarteten Elf, angefangen bei Torhüter Neuer über die Viererkette mit Kimmich, Rüdiger, Tah und Mittelstädt, das Zentrum mit Andrich und Kroos, die Offensivreihe mit Musiala, Gündogan und Wirtz bis zu Havertz in vorderster Linie. Der erste Auftrag lautete: Gleich mal ein Zeichen setzen und das Publikum mitnehmen, und nach nicht mal einer Minute tauchte Wirtz nach Zuspiel von Rüdiger frei vor Torwart Gunn auf, hatte aber knapp im Abseits gestanden.
Der Souverän Kroos
Dem frühen Überwältigungsversuch ließen die Deutschen dann aber keinen ungestümen, sondern einen reifen und überlegten Vortrag folgen, sie wollten die Führung nicht um jeden Preis sofort, sie hatten die nötige Geduld und einen Plan. Es war alles andere als Zufall, dass der erste Treffer seinen Ausgang bei Kroos nahm.
Er war der Souverän im deutschen Spiel, seine Bälle waren oft nicht spektakulär, aber sie waren von geradezu unerhörter Präzision und manchmal auch mit solcher Verstandesschärfe gespielt, dass sie den schottischen Defensivverbund sanft, aber sicher zerteilten. Bei seinem Diagonalpass auf Kimmich vor dem 1:0 landete Kroos auf dem Hosenboden, der Ball kam trotzdem an, Kimmich legte ihn zurück in den freien Raum kurz vor der 16-Meter-Linie, wohin sich Wirtz geschlichen hatte. Und so, wie die deutsche Analyseabteilung auf der Tribüne nach dessen Direktabnahme jubelte, war auch das kein Zufall.
Das deutsche Spiel war so gestrickt, dass die Schotten überhaupt keine Wege oder Räume fanden, sie schafften es nicht einmal, sich Neuers Strafraum zu nähern. Dafür hatte, aus der Tiefe kommend, Kroos mal wieder eine Idee, ein Pass wie eine Einladung an Gündogan, das Aufbauwerk weiterzuführen, was dieser mit eleganter Drehung tat, Havertz sah und einbezog, der wiederum die Ruhe hatte, Musiala zu bedienen – 2:0. Nagelsmann hatte Wirtz, Musiala und Gündogan seine „drei Zauberer“ genannt, und nun waren sie alle nach nicht einmal 20 Minuten schon an einem Treffer beteiligt.
Nach 25 Minuten sah es schon nach dem nächsten aus, nach einem Foul an Musiala entschied Schiedsrichter Turpin auf Strafstoß, musste sich aber vom Videoassistenten korrigieren lassen, es war außerhalb. Beim nächsten Einsatz des VAR profitierten dann die Deutschen gleich doppelt.
Das horizontale Einsteigen Porteous‘ mit den Füßen voraus gegen Gündogan wertete Turpin nach Ansicht der Videobilder nicht nur als elfmeter- sondern auch als rotwürdig, tatsächlich musste Gündogan froh sein, in dieser Szene glimpflich davongekommen zu sein. Als er wieder stand, übernahm Havertz den Schuss und verwandelte sicher.
Nagelsmanns Spielmanagement
In München waren Bälle schon zur Mittagszeit geflogen, quer über den Marienplatz – wobei der eher als St. Mary’s Square durchgegangen wäre, als zentraler Versammlungsort der „Tartan Army“, es wurde gesungen und getrunken – und wer im Deutschlandtrikot dabei sein wollte statt im Schottenrock, war auch willkommen. Es hätte kaum einen besseren Stimmungsmacher können. Doch im Stadion drückten die Gegentore nun auf die zuvor so prächtige Laune, der Dudelsack, der zu hören war, klang einsam und gequält.
Nach der Pause zeigte Nagelsmann kluges Spielmanagement, zuerst ersetzte er den mit Gelb belasteten Andrich durch Groß. Die Deutschen erlaubten sich nun eine kontrolliertere Form der Offensive, noch auf weitere Treffer bedacht, aber nicht mehr mit derselben Wucht.
Nach einer Stunde kamen Füllkrug und Sané für Havertz und Wirtz. Füllkrug gelang mit einem wuchtigen Schuss der vierte Treffer, ein weiterer blieb wegen Abseits verwehrt. Dafür setzte Can, für Kroos eingewechselt, den Schlusspunkt. Dem Startschuss auf dem Platz folgte ein donnerndes „Völlig losgelöst“ aus den Boxen.