Europawahl: Scholz stellt Bedingungen für Unterstützung von der Leyens
Da die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aus Deutschland kommt, fiel dem Satz bislang in Berlin nur wenig Beachtung zu. Ganz so, als würde er ohnehin nie angewendet werden. Das stimmt so aber nicht. Es gibt für die SPD und ihren Bundeskanzler eine rote Linie für die Unterstützung von der Leyens, auf die sie immer deutlicher verweisen. Sollte diese überschritten werden, könnte die deutsche Kommissionspräsidentin die Unterstützung aus ihrer Heimat verlieren – und damit ihren Posten. Dann wird der unscheinbare Satz auf der letzten Seite auf einmal ganz wichtig.
Die treibende Kraft ist die SPD. Sie unternimmt keine Kampagne gegen von der Leyen persönlich. Aber für die SPD steht fest: Sollte von der Leyen nach der Europawahl am 9. Juni ergebnisoffen nach einer Mehrheit im Europäischen Parlament suchen, also auch mit der EKR-Fraktion, dann ist sie nicht mehr zu halten.
Nimmt Meloni Orbán in Fraktion auf?
In der EKR-Fraktion versammeln sich allerlei Rechtsparteien aus Europa. Auch die Abgeordneten der Fratelli d’Italia, der Partei der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Führende Sozialdemokraten machen kein Hehl aus ihrer Abscheu Meloni gegenüber. Katarina Barley, die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, sagt dieser Tage immer wieder, dass man sich nicht einlullen lassen dürfe von Melonis freundlichem Auftritt auf europäischer Bühne. Sie bleibe gefährlich. Vorherrschende Meinung in der SPD ist: Die EKR-Fraktion besteht aus Rechtsextremen.
Von der Leyen sieht das ganz anders. Bei einer Debatte der Spitzenkandidaten stellte sie sich am vorigen Donnerstag hinter Meloni: „Sie ist eindeutig pro-europäisch, gegen Putin, sie ist da sehr klar, und für Rechtsstaatlichkeit. Wenn das so bleibt, bieten wir eine Zusammenarbeit an.“ Man müsse eine Mehrheit im Parlament zusammenbekommen, um Europa voranzubringen.
Sie wollte freilich ausdrücklich keine Zusage für die gesamte EKR-Fraktion geben, weil man deren Zusammensetzung nicht kenne. Es ist nämlich nicht klar, ob Meloni nach der Wahl versucht, Viktor Orbáns Fidesz aufzunehmen. Außerdem ist ungewiss, was aus der polnischen PiS-Partei wird. Sie hat an der Regierung den Rechtsstaat im eigenen Land unterminiert, wird aber ihre dominierende Rolle in der Fraktion an Melonis Partei verlieren.
Die SPD-Wahlkampagne gegen rechts war mit dem Kanzler abgestimmt. Gebremst hat er offenbar nicht. Und das lange, bevor von der Leyen in Richtung der Rechtsparteien geblinkt hat. In der SPD sieht man es deswegen so: Wir handeln aus Überzeugung. Und der Kanzler tut es auch.
Aber hat der nicht freundlich lächelnd Giorgia Meloni schon die Hand geschüttelt und die deutsch-italienische Freundschaft gelobt? Das hat er. Wäre eine Zusammenarbeit von Melonis Leuten mit der EU-Kommissionspräsidentin also wirklich ein solcher Tabubruch, dass der deutsche Bundeskanzler die deutsche EU-Chefin fallen lassen würde?
Ja, glaubt man in der SPD. So sagen es mehrere Personen aus der Partei- und Fraktionsspitze. Denn Scholz unterscheide zwischen dem Amt des Bundeskanzlers – und dem als Parteimensch. Als Ersterer müsse er weiter mit Meloni sprechen, auch im Fall des Knalls. Aber als Parteimensch ziehe er rote Linien. Es gehe um Glaubwürdigkeit. Und da sei er auch viel mehr Parteimensch als die Person, von der er sich viel abgeschaut hat, Angela Merkel.
Konflikt mit Scholz in der Chinapolitik
Wo Olaf Scholz die Grenze sieht, sagt er inzwischen immer deutlicher. Am Freitag stand er im Kanzleramt neben dem Ministerpräsidenten aus Portugal, Pressekonferenz, Frage zur Europawahl: „Für mich ist klar: Wenn die nächste Kommission gebildet wird, darf sie sich im Parlament nicht auf eine Mehrheit stützen, die auch die Unterstützung von Rechtsextremen braucht“, sagte der Kanzler. Es dürfe auch nicht konstruiert werden. „Insofern bin ich sehr bedrückt über die Uneindeutigkeit manch politischer Aussage, die wir zuletzt gehört haben.“ So wie man sich das in der SPD auch vorstellt, fügte er hinzu: „Ich aber bin da klar. Es wird auch nur gelingen, eine Kommissionspräsidentschaft zu etablieren, die sich auf die traditionellen Parteien stützt, die ich eben benannt habe. Alles andere wäre für die Zukunft Europas ein Fehler.“
So ist es auch die Position der europäischen Sozialdemokraten, denen die SPD angehört. Aber dass der Kanzler es offenbar genauso sieht, ist entscheidend. Denn von der Leyen sitzt auf dem deutschen Kommissarsposten eben als Kommissionspräsidentin. Von ihrem Verhalten nach der Wahl wird abhängen, ob sie wieder nominiert wird. SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sagte am Freitag bei der Vorstellung der finalen Plakate für die Europawahl, dass von der Leyen bewusst den Raum der Kooperation erweitere. Das sei keine rote Linie, „das ist zu wenig“.
Im Umfeld von der Leyens hält man es für einen typischen Wahlkampfschachzug der SPD, „gegen rechts“ zu mobilisieren. Zugleich ist man sich darüber im Klaren, dass es von Scholz vor der Wahl keine „Carte blanche“ für die EVP-Spitzenkandidatin geben werde. Das liegt aber weniger an deren Verhältnis zu Meloni als an handfesten Interessenunterschieden, insbesondere in der Chinapolitik. Während die Kommissionspräsidentin eine härtere Gangart gegenüber Peking eingeschlagen hat, sieht Scholz die Belange der deutschen Industrie nicht genügend berücksichtigt. Erwartet wird, dass Scholz wie auch Macron nach der Wahl um Zugeständnisse von der Leyens ringen werden, bevor sie ihr Placet zu einer zweiten Amtszeit erteilen. Sie hat sich in etwa zwischen beiden positioniert.
Wie bekommt Leyen eine Mehrheit?
Scholz und von der Leyen seien ständig im Gespräch miteinander, so ist es in Brüssel zu hören, allerdings nicht über ihr Verhältnis zu rechten Parteien. Es soll auch keine klare Ansage aus dem Kanzleramt dazu gegeben haben. Tatsächlich dürfte sich Scholz der realpolitischen Ausgangslage nur zu bewusst sein. Rein formal betrachtet, werden Sozialdemokraten, Liberale und Christdemokraten nach der Wahl wieder eine Mehrheit im Europäischen Parlament haben. Gemäß Prognosen um die 400 von 720 Sitzen. Die Mehrheit für die geheime Wahl der Kommissionsspitze liegt bei 361 Stimmen.
Nur stimmen die Fraktionen eben nicht geschlossen ab. 2019 war ihre Mehrheit viel größer – doch lag von der Leyen nur neun Stimmen über der magischen Schwelle. Die SPD-Abgeordneten lehnten sie ab, weil sie keine Spitzenkandidatin gewesen war. Die knappe Mehrheit kam wohl nur mit den Stimmen der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung aus Italien zustande.
Von der Leyen – und jedem anderen Kandidaten – bleibt also gar nichts anderes übrig, als die eigene Basis zu verbreitern. Sie kann auf die Grünen zugehen, doch versagten die ihr schon 2019 ihre Zustimmung, obwohl Klimaschutz ihre Priorität Nummer eins war. Man dürfe sich nicht von den Grünen erpressen lassen, lautet jetzt die Devise. Deshalb richtet sich der Blick nach rechts, wohin sich auch die nationale Politik in vielen Staaten verschoben hat. Melonis Fratelli d’Italia könnten mit 25 Abgeordneten ins Parlament einziehen – und bei der Wahl das Zünglein an der Waage sein. Dazu kommen noch Rechtsparteien aus der Tschechischen Republik, Schweden und Finnland, die von der Leyens drei Kriterien erfüllen: Sie sind für Europa, für die Ukraine, für Rechtsstaatlichkeit.
In der SPD geht man davon aus, dass vieles versucht werden wird, um den großen Knall zu verhindern. Denn auch die Sozialdemokraten können mit von der Leyen leben, auch wenn es kein Genuss sei, wie es formuliert wird. Scholz habe viele Möglichkeiten, von der Leyen seine Forderungen mitzuteilen. Und das werde er auch tun. Der Druck müsse so groß sein, dass sie ihre Offenheit gegenüber der EKR-Fraktion aufgebe. In der SPD beteuert man, das sogar zu hoffen. Es stehe nämlich zu viel auf dem Spiel.
Die Grünen in der Zwickmühle
Obwohl das so ist, wird in Berlin kaum offen darüber gesprochen, wie es ausgehen könnte. Den Satz auf der letzten Seite des Koalitionsvertrags haben wichtige Politiker bei den Grünen durchaus im Blick. Dass er aber tatsächlich Bedeutung bekommen könnte, darüber möchte man nicht offen spekulieren. Der Satz kam in den Koalitionsvertrag, als die Verhandlungen ihrem Ende entgegengingen, die Ressortverteilung war eine Angelegenheit für die kleine Runde der Chefs. Der Satz bot den Vorteil, dass er zwar ein grundsätzliches Anspruchsrecht der Grünen klärte, aber mit dem Zusatz „sofern die Kommissionspräsidentin nicht aus Deutschland stammt“ aus von der Leyen keine „lahme Ente“ im Amt machte.
Das war auch im Sinne der Grünen, zumal diese fest zum Konzept der Spitzenkandidaten stehen. Die Führung der Kommission soll durch die Europawahl demokratisch legitimiert werden. Wer wollte zudem den Eindruck erwecken, aus parteitaktischen Gründen eine Deutsche von dem Posten zu verdrängen? Nur um einen weniger wichtigen für die eigene Partei zu bekommen?
An der Spitze der Kommission dürfte es aus Ampel-Sicht nach von der Leyen ohnehin kaum besser und schon gar nicht grüner werden. Am Ende kann man mit ihr doch ganz gut leben. Es ist noch nicht lange her, da wurde sie bei den Grünen als „grünste Kommissionspräsidentin aller Zeiten“ gerühmt. Nur bei der FDP klingt das anders. Die Kritik an von der Leyen und der von ihr geführten Kommission gehört in gewisser Weise zum Kern ihres Europawahlkampfs. Als die Partei am Freitag ein neues Großplakat zum Wahlkampfendspurt präsentierte, stand da drauf: „Weniger von der Leyen, mehr von der Freiheit“.
Pragmatische Unterstützung durch Merz
In der Union kennt man den Satz auf der letzten Seite des Koalitionsvertrags durchaus. Ob er allerdings nach einem Ende der CDU-Parteifreundin von der Leyen an der Kommissionsspitze tatsächlich Bedeutung bekommen könnte, da ist man uneins. Die Union kann selbstbewusst in die Europawahl gehen. Die Umfragen lassen ein starkes Ergebnis am 9. Juni realistisch erscheinen. CDU und CSU liegen zusammen um die 30 Prozent, die Kanzlerpartei etwa bei der Hälfte. Auch die EVP liegt zwei Wochen vor der Wahl klar vorne. Das stärkt den Anspruch in der CDU, dass weiterhin die Christdemokratin von der Leyen Kommissionspräsidentin bleibt.
Sie ist zwar nicht gerade eine enge Weggefährtin des Parteivorsitzenden Friedrich Merz. Aber dem Vernehmen nach ist das Verhältnis der beiden frei von Störungen. Merz unterstützt von der Leyens abermalige Kandidatur in Brüssel. Auf dem CDU-Parteitag stellten sich sowohl der CDU-Chef als auch der Vorsitzende der CSU, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, glaubhaft hinter von der Leyen. Das Ziel, die Kommissionspräsidentschaft nicht nur in deutschen Händen zu belassen, sondern auch in denjenigen der Parteifreundin, scheint groß genug, um inhaltliche Differenzen – etwa in der Klimapolitik – mindestens derzeit beiseitezulassen.
Doch bei allen guten Umfragen weiß man in der CDU, dass die erforderliche Bestätigung von der Leyens durch das Europäische Parlament nicht ohne Abgeordnete anderer Parteienfamilien als der EVP gehen würde – sollten denn die Staats- und Regierungschefs sie wieder vorschlagen. „Wir werden nach der Europawahl nicht nur mit SPD und Grünen über die Besetzung der Kommissionsspitze sprechen“, sagt der europapolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Gunther Krichbaum.
Da gebe es noch „viel mehr“ Gesprächspartner, beispielsweise die Vertreter der Regionalparteien aus der Europäischen Freien Allianz. „Das Parteienspektrum in Europa ist sehr heterogen, und man braucht in Brüssel einen gewissen Pragmatismus beim Finden von Mehrheiten“, ergänzt der CDU-Abgeordnete. Dieser Pragmatismus hat eine klare Grenze: Gespräche zwischen EVP und der Rechts-außen-Fraktion ID schieden definitiv aus.
Weniger problematisch als Berlusconi
Krichbaum findet es „nachvollziehbar“, dass der EVP-Partei- und Fraktionsvorsitzende Manfred Weber „die Fühler auch in Richtung Fratelli d’Italia ausgestreckt hat“. Krichbaum habe in seinen Gesprächen mit Mitgliedern der Fratelli d’Italia stets zugesagt bekommen, dass die Partei sich nicht nur an europäische Ziele halte, sondern auch zur NATO stehe, die Ukraine unterstütze und den Antisemitismus verurteile. Der „problematische Kantonist“ in Italien sei für die Union immer Silvio Berlusconi gewesen, sagt Krichbaum. Berlusconi habe „bei Wladimir Putin auf dem Schoß gesessen“. Wenn dagegen Meloni nach Berlin komme, stoße sich doch niemand mehr daran.
Die Staats- und Regierungschefs werden acht Tage nach der Europawahl erstmals zusammenkommen, um über das neue Personalpaket zu beraten. Bei dem informellen Dinner in Brüssel geht es dann um alle Spitzenposten. Es muss ein Paket geschnürt werden, das die politischen Familien und die Mitgliedstaaten zufriedenstellt. In Brüssel wird erwartet, dass die Sozialdemokraten den Vorsitz im Europäischen Rat für sich beanspruchen, die Liberalen den Posten des Außenvertreters. Der Vorsitz im Parlament dürfte, wie üblich, zur Mitte der Legislatur wechseln. Die jetzige Präsidentin Roberta Metsola von der EVP wird sich um die erste Hälfte bewerben.
Eine echte Konkurrenz zu von der Leyen ist bisher nicht in Sicht. Die EVP steht geschlossen hinter ihrer Kandidatin – und sie stellt die Hälfte aller Regierungschefs. Manchmal wird Mario Draghi genannt, doch der frühere EZB-Chef und Ministerpräsident hat keine parteipolitische Bindung. Meloni schätzt ihn zwar, strebt aber nach einem Kommissar mit einem wichtigen Wirtschaftsdossier, den sie direkt steuern kann. In informierten Kreisen wird dafür Raffaele Fitto genannt, ihr in Brüssel erfahrener Minister für Europaangelegenheiten.
Wenn alles glattgeht, könnten die Personalentscheidungen beim Europäischen Rat Ende Juni fallen. Mitte Juli könnte von der Leyen dann im neuen Parlament zur Wahl antreten. Als Erstes aber werden am 17. Juni alle Regierungschefs auf den Kanzler blicken und ihn fragen: Schlägst du von der Leyen wieder vor?