Furcht vor Doppelbesteuerung: Die Rentensteuer als Rechenspiel
Zweimal hat die Ampelkoalition schon die Rentenbesteuerung korrigiert. Ein drittes Gesetz steht noch aus. Wann das passiert, ist unklar, nicht aber, dass es noch eines geben muss.
Mit dem Wachstumschancengesetz, dem der Bundesrat vergangenen Freitag zugestimmt hat, wird gleichsam nebenbei der Teil der Rente, der versteuert werden muss, für alle verringert, die gerade in Rente gegangen sind oder das in naher oder fernerer Zukunft vor sich haben – genau so, wie es SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag verabredet haben. Dieser steuerpflichtige Anteil steigt mit Wirkung des Jahres 2023 nicht mehr um einen Prozentpunkt im Jahr, sondern nur noch um einen halben Prozentpunkt.
Wer vergangenes Jahr die Seiten wechselte, also nicht länger Beiträge zahlt, sondern seine gesetzliche Rente kassiert, muss demnach nur 82,5 Prozent statt 83 Prozent dieser Bezüge versteuern. Wer dieses Jahr sich aus dem Arbeitsleben verabschiedet, bekommt einen steuerpflichtigen Anteil von 83 statt 84 Prozent zugewiesen. Wer das im Jahr 2040 machen wird, muss 91 Prozent statt der gesamten Rente versteuern. Die volle Steuer auf die Rente wird erst im Jahr 2058 erreicht statt 2040. Weil die abgesenkten Werte „lebenslänglich“ gelten, kann da über die Jahre etwas zusammenkommen. Allerdings wird nicht etwa der steuerfreie Anteil für das gesamte Rentnerleben festgezurrt, sondern nur ein fester Betrag, der für jeden einmal nach seinem oder ihrem Renteneintritt bestimmt wird und danach durchgängig vom Finanzamt genutzt wird.
Die Entlastung in Zahlen
Der Finanzmathematiker Werner Siepe hat es gewagt, die Entlastung zu beziffern. „Bei 1975 geborenen Standardrentnern mit Rentenbeginn 2040 liegt dieser zusätzliche Rentenfreibetrag bei insgesamt 46.364 Euro.“ Liege der Grenzsteuersatz bei 20 Prozent, errechne sich daraus eine Gesamtsteuerersparnis von 9273 Euro durch die Neuregelung der Rentenbesteuerung. „Für Höchstrentner mit 40 Jahren Verdienst oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze fallen die zusätzlichen Rentenfreibeträge von rund 73.000 Euro und Steuerersparnisse von 21.900 Euro bei einem Grenzsteuersatz von 30 Prozent statt 20 Prozent deutlich höher aus.“
Das sind beeindruckende Zahlen, die entsprechend gern verbreitet werden. Siepe arbeitete nach eigener Aussage mit Rentenvorschauwerten der Bundesregierung, die bis zum Jahr 2036 reichten. Danach unterstellte er, dass Durchschnittsentgelte und Beitragsbemessungsgrenzen jedes Jahr um 2,5 Prozent steigen und der jeweilige Rentenwert um 2 Prozent. 17 Rentenjahre hat er angenommen. Doch was so exakt herüberkommt, bleibt eine vage Schätzung. Denn niemand kennt heute die Steuertarife von morgen. Grundfreibetrag, Eingangssteuersatz, Progressionsverlauf sind zentrale Faktoren für die jeweilige Last. Hinzu kommen individuelle Faktoren. Zusätzliche Einkünfte wie Betriebsrenten oder Mieteinnahmen wirken sich auf die Steuerlast eines Rentners aus. Siepe hat alles über einen Leisten geschlagen, indem er für die beiden Szenarien „Standardrentner“ und „Höchstrentner“ pauschal mit Belastungen von 20 beziehungsweise 30 Prozent rechnet. Man erhält damit eine Größenordnung, um die es gehen könnte – ob dies am Ende auch so kommt, steht auf einem anderen Blatt.
Schon Anfang 2023 sind die Aufwendungen für die gesetzliche Rente vorzeitig vollständig steuerfrei gestellt worden. Dies entlastet die Beschäftigten nach offiziellen Angaben 2023 um rund 3,2 Milliarden Euro und dieses Jahr um 1,8 Milliarden Euro. Danach ist der Effekt null, da sie ohnehin steuerfrei gewesen wären. Die Wirkung dieser Maßnahme ist für den Einzelnen überschaubar. Ein Arbeitnehmer mit Durchschnittsverdienst muss nach Angaben von Siepe damit insgesamt 493 Euro weniger versteuern (321 Euro im Jahr 2023, 172 Euro dieses Jahr). Bei einem Grenzsteuersatz von beispielsweise 30 Prozent mache dies eine Steuerersparnis von 148 Euro aus. Höchstbeitragszahler verminderten ihr zu versteuerndes Einkommen in den beiden Jahren 2023 und 2024 um insgesamt 990 Euro, schreibt der Volkswirt und Mathematiker weiter. Mit einem Spitzensteuersatz von 42 Prozent kämen sie auf eine Steuerersparnis von rund 416 Euro.
Bundesverfassungsgerichts.
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat im Mai 2021 in zwei Entscheidungen zwar verneint, dass es schon zu einer doppelten Besteuerung gekommen ist, aber dies für die Zukunft nicht ausgeschlossen. Die bestehenden Regelungen waren nach seiner Einschätzung unzureichend, dies zu verhindern. Natürlich hatte auch die Bundesregierung seinerzeit gerechnet, was an besteuerten Beiträgen im Erwerbsleben zusammenkommen dürfte und was an steuerpflichtigen Renteneinkünften – aber anders als die obersten Steuerrichter. Diese gaben in ihren wegweisenden Entscheidungen nunmehr vor, dass der Grundfreibetrag, der Sonderausgabenabzug für die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung, aber auch die Pauschbeträge für Werbungskosten und Sonderausgaben in der Rechnung, was bei Beiträgen und Renten mit Steuern belastet wird, nicht berücksichtigt werden dürfen.
Siepe berichtet, dass bei ihm immer wieder Neurentner anfragen, ob bei ihnen eine Doppelbesteuerung trotz der jüngsten Reformschritte noch möglich sei. „Meine Standardantwort lautet dann immer: Es hängt vom Einzelfall ab“, erzählt er. Für diejenigen, die es genau wissen wollten, erstelle er ein Versorgungsgutachten, beispielsweise für eine Rentnerin, die Anfang dieses Jahres mit exakt 63 Jahren und einer recht hohen gesetzlichen Rente in den Ruhestand gewechselt sei. „Meine Antwort in ihrem Fall lautete: Da sie eine Frau ist und damit eine höhere fernere Lebenserwartung als ein Mann hat, kommt es bei ihr nicht zur Doppelbesteuerung.“ Wäre sie ein Mann und ledig, läge eine Doppelbesteuerung der Rente vor.
Korrekturgesetze reichen kaum aus
In dem konkreten Fall habe die Frau Rentenbeiträge von insgesamt 132.486 Euro aus versteuertem Einkommen gezahlt, erläutert Siepe. Bei ihr würden 83 Prozent der gesetzlichen Rente versteuert, 17 Prozent blieben steuerfrei. Bei einer Jahresbruttorente von 37.031 Euro komme man auf einen Rentenfreibetrag von 6.295 Euro, der für alle weiteren Jahre festgezurrt werde. Nach der Statistik werde sie 22,78 Jahre Rente beziehen, sodass insgesamt rund 143.000 Euro steuerfrei blieben. Bei einem Mann mit denselben Werten würde der steuerfreie Rentenzufluss auf 121.627 Euro sinken, da er mit 63 Jahren nur noch eine statistische Lebenserwartung von 19,32 Jahren habe. Nach geltender Rechtsprechung läge damit bei ihm eine Doppelbesteuerung vor, da die aus dem versteuerten Einkommen gezahlten Rentenbeiträge über dem steuerfreien Rentenzufluss lägen.
Dass diese beiden jüngsten Korrekturgesetze zur Rentenbesteuerung kaum ausreichen, das Risiko einer Doppelbesteuerung auszuschließen, bestätigt eine Studie, die das Bundesfinanzministerium nach den BFH-Entscheidungen in Auftrag gegeben hatte. Dirk Kiesewetter, Ralf P. Schenke (beide Julius-Maximilians-Universität Würzburg) und Ralf Maiterth (Humboldt-Universität zu Berlin) schlagen in ihrem Gutachten vor, ergänzend einen typisierten Rentenfreibetrag einzuführen. Seine Höhe sollte vom Renteneintrittsjahr und drei anderen Parametern abhängig gemacht werden, die die Erwerbsbiographie des Steuerpflichtigen spiegeln. Außerdem befürworten sie eine Einzelfallprüfung auf Antrag, auch wenn dies nur in wenigen Fällen notwendig sein dürfte.
Das Bundesfinanzministerium zeigte sich im September 2023 dafür offen: „Das Gutachten bildet einen wichtigen Ausgangspunkt für die weiteren konzeptionellen Arbeiten.“ Das Drehen an der Rentenbesteuerung ist also noch lange nicht vorbei.