Kommentar: Scholz dreht an Putins Rad der Einschüchterung
Als der Kanzler unlängst von der Ukraine sprach, stellte er Angst an den Anfang. Gleich in der ersten Runde einer Fragestunde im Bundestag sagte er, genau dies empfänden die Deutschen, wenn jemand der Ukraine allzu wirksame Waffen gegen Russland geben wolle. Deshalb bleibe er bei seinem Nein zur Lieferung des Flugkörpers Taurus.
Und die Leute in Deutschland haben ja auch wirklich Angst vor Russland. Die Demoskopen bestätigen das, und ein Kanzler darf so etwas nicht ignorieren. Schließlich ist es keine Kleinigkeit, sich mit einer aggressiven Atommacht anzulegen. Wladimir Putin hat ja gerade erst in seiner Rede zur Lage der Nation den Verbündeten der Ukraine ein atomares „Ende der Zivilisation“ in Aussicht gestellt. Damit ist eine bittere Erkenntnis aus Zeiten des Kalten Krieges aufs Neue aktuell geworden: Abschreckung kann im atomaren Unentschieden zwar Eskalation verhindern; ohne die Bereitschaft zum Risiko des Krieges aber nimmt der Gegner sie nicht ernst. In die Sicherheit durch Abschreckung mischt sich deshalb immer ein Rest von Angst. Scholz hat deshalb recht, wenn er fordert, alle Gefahren „besonnen“ abzuwägen – genau so, wie er das für sich in Anspruch nimmt.
Das ist die eine Seite. Die andere: Putin hat von Anfang an versucht, die verständlichen Sorgen der Menschen durch Einschüchterung bis zur Panik zu steigern, damit der Westen aufgibt. Schon vor zwei Jahren sagte er, jedes Land, das ihm entgegentrete, werde Folgen erleben wie „noch nie in seiner Geschichte“.
Bluffer und Bluffhelfer
Es war eine kaum verhüllte nukleare Drohung, aber sie war nur Bluff. Heute nämlich wissen wir: Der Westen hat Kontra gegeben, doch Putin hat das Risiko eines Atomkrieges gescheut. Der Kanzler aber hat die russische Angstkampagne trotz ihrer Durchschaubarkeit von Anfang an immer wieder verstärkt. Kurz nach dem Überfall von 2022 griff er zum Beispiel ohne Not die Moskauer Horrorstory vom Atomkrieg auf. Dadurch ist er Putins Bluffhelfer geworden, und in Deutschland dreht sich jetzt die Angstspirale: Erst empfinden die Leute Furcht, dann zeigt Scholz dafür Verständnis, und in der Folge fürchten alle sich nur noch mehr. Sie sehen ja: Auch der Kanzler teilt ihre Sorgen. Putins Saat geht auf.
Manche Kritiker werfen dem Kanzler nun vor, er schüre diese Ängste mit Absicht, um nächstes Jahr als „Friedenskanzler“ wiedergewählt zu werden. Im Klartext: Scholz redet den Deutschen Gefahren ein, um sich dann als Retter feiern zu lassen. Nebenbei opfert er die Ukraine seiner Wahltaktik.
Der Vorwurf ist so furchtbar, dass niemand ihn ohne Beleg erheben sollte. Doch selbst wenn Scholz der Ukraine den Taurus aus echter Sorge und Treue zu seinem Amtseid verweigert und nicht aus zynischem Kalkül, bleibt die Wirkung dieselbe: Indem er Ängste bestätigt, statt sie zu dämpfen, macht er sich zur Karte in Putins Pokerspiel.
Aber nicht alle drehen wie er am Rad der Angst. Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen, CDU-Chef Friedrich Merz und viele andere wollen der Ukraine trotz des Gegenwindes aus den Umfragen den Taurus nicht verweigern. Wahltaktisch scheint solche Politik gegen die Stimmung des Augenblicks zwar riskant, aber nur auf den ersten Blick. Denn nicht nur Angst ist ansteckend, sondern auch Zuversicht. Es muss nur jemand vorangehen.