Müsste Netanjahu in Deutschland verhaftet werden? Antrag auf Haftbefehl
Wie kompliziert die Lage nach dem Vorstoß des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zur politischen Führung Israels und der Hamas ist, wurde am Dienstag schon daran deutlich, dass das Kanzleramt erst am frühen Nachmittag eine Stellungnahme veröffentlichte. Darin wandte sich ein Regierungssprecher zunächst der leichteren Aufgabe zu: dem Antrag auf Haftbefehle gegen „mehrere Anführer der Terrororganisation Hamas“. Angesichts der „Gräueltaten“ des 7. Oktobers, der andauernden Geiselhaft vieler Menschen und der weiterhin stattfindenden Angriffe der Hamas auf Israel „ist das nur folgerichtig“. Ein kleiner Seitenhieb war eingebaut mit dem Hinweis darauf, dass der Chefankläger Karim Khan sein Vorgehen in einem CNN-Interview mitgeteilt habe.
Viel schwieriger ist für Berlin der Umgang mit dem Haftbefehlsantrag gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galant. Dazu teilte der Sprecher mit: „Die Bundesregierung weist jeden Anschein von Vergleichbarkeit auf das Entschiedenste zurück!“ Es wird bekräftigt, dass Israel das Recht habe, sich gegen die „mörderischen Angriffe“ der Hamas zu verteidigen. „Vor diesem Hintergrund wiegen die Vorwürfe des Chefanklägers schwer und müssen belegt werden.“ Deutschland gehe davon aus, dass dabei „maßgeblich“ berücksichtigt werde, dass Israel ein demokratischer Rechtsstaat mit einer starken, unabhängigen Justiz sei. Das war ein Hinweis darauf, dass der IStGH nicht tätig werden müsste, wenn es die israelische Justiz würde.
Erst mal bleiben Deutschland nun ein paar Wochen, bis über den Antrag des Chefanklägers entschieden worden ist. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verwies am Dienstag in Kiew lediglich auf die Erklärung ihres Ministeriums von Montagabend. Mit Blick auf die Frage, welche Auswirkungen der Antrag auf ihre künftige Gesprächs- und Reiseplanung habe, sagte Baerbock, sie werde weiter so intensiv Gespräche führen, wie sie das bislang getan habe.
Ein nahendes Dilemma
Im Auswärtigen Amt hieß es am Montag, der IStGH sei eine „elementare Errungenschaft der Weltgemeinschaft“. Deutschland habe ihn immer unterstützt, respektiere seine Unabhängigkeit und Verfahrensabläufe „wie die aller anderen internationalen Gerichte“. Das gelte auch für die Entscheidung, welche die Vorverfahrenskammer nun treffen müsse. Harte Kritik gab es aus dem Auswärtigen Amt – anders als aus Israel oder Amerika – zunächst nicht. Bemängelt wurde einzig der Zeitpunkt: „Durch die gleichzeitige Beantragung der Haftbefehle gegen die Hamas-Führer auf der einen und die beiden israelischen Amtsträger auf der anderen Seite ist der unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung entstanden“, so der Sprecher des Ministeriums. „Jedoch wird das Gericht nun sehr unterschiedliche Sachverhalte zu bewerten haben, die der Chefankläger in seinem Antrag ausführlich dargestellt hat.“
Nicht nur Völkerrechtler sehen nun ein Dilemma herannahen. Sie halten es für wahrscheinlich, dass der IStGH die Haftbefehle, die Khan beantragt hat, auch erlassen wird. Auch die Statistik spricht dafür. Sind die Haftbefehle einmal in der Welt, sind die Vertragsstaaten verpflichtet, sie zu vollstrecken, auch Deutschland. Das Land also, zu dessen Staatsräson die Sicherheit Israels gehört und das zugleich permanent hervorhebt, das Völkerrecht zu achten, auch den IStGH. Deutschland zählt nicht nur zu dessen Vertragsstaaten, es hat an der Ausarbeitung des Römischen Statuts aktiv mitgewirkt. 1998 wurde es von 120 Staaten zur Gründung des IStGH unterzeichnet. Bis heute ist Deutschland nach Japan außerdem der zweitwichtigste Beitragszahler. Man setze sich „aktiv dafür ein, dass der IStGH möglichst effektiv arbeiten kann und breite Unterstützung in der Staatengemeinschaft findet“, heißt es auf der Seite des Auswärtigen Amts.
Mit Blick auf das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza, vor allem hinsichtlich eines drohenden Großangriffs auf Rafah, wurden die Ermahnungen, das Völkerrecht einzuhalten, zuletzt auch aus Berlin immer deutlicher. Erst vorige Woche schrieb Baerbock das in einem Brief mit zwölf anderen Außenministern an den israelischen Außenminister Israel Katz.
Vorwurf der Doppelmoral?
Die Bedeutung des Völkerrechts hebt Deutschland auch mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine stets hervor. Als Baerbock den IStGH im vorigen Jahr besuchte, hielt sie eine Grundsatzrede: Sie warb dafür, ein internationalisiertes Tribunal auf Grundlage ukrainischer Gerichtsbarkeit einzusetzen, um die russischen Kriegsverbrechen zu verfolgen, wonach es bislang nicht aussieht. Baerbock warb außerdem dafür, das Römische Statut zu reformieren, um den IStGH für die Zukunft zu stärken. Es gehe um Abschreckung, sagte sie damals und bezog sich auf den russischen Angriff. „Aber hier geht es entscheidend auch um Gerechtigkeit, für die Opfer.“
Einen Haftbefehl desselben Gerichts könnte Deutschland schwerlich missachten, ohne sich den Vorwurf von Doppelmoral einzufangen. Doch schon unterhalb der Ebene, ob der israelische Regierungschef bei einem Deutschlandbesuch verhaftet werden müsste, träten Komplikationen auf. Dürfte der Bundeskanzler einfach weiter wie bisher mit einem Mann telefonieren, der per internationalem Haftbefehl gesucht wird?
Die Zuständigkeit des IStGH ergibt sich auch mit Blick auf die palästinensischen Gebiete aus dem Römischen Statut, das Palästina – im Gegensatz zu Israel – 2015 unterzeichnete. Artikel 12 des Statuts besagt, dass der Gerichtshof Verbrechen verfolgen kann, die auf dem Gebiet eines Vertragsstaats begangen werden. Laut einem Beschluss von 2021 gilt das ausdrücklich auch für die palästinensischen Gebiete. Eine Vorverfahrenskammer des IStGH entschied damals, dass der Gerichtshof seine Zuständigkeit auch hier ausüben kann.
Die Entscheidung damals setzte voraus, dass Palästina als „Staat“ im Sinne des Römischen Statuts angesehen werden kann – eine Frage, zu der die Kammer verschiedene Stellungnahmen einholte. Auch die Bundesregierung äußerte sich. Deutschland verwies auf seinen „bekannten Rechtsstandpunkt“, der in verschiedenen internationalen Gremien schon „wiederholt bekräftigt“ worden sei. Demnach besäßen die palästinensischen Gebiete „derzeit keine Staatlichkeit“, schrieb die Bundesregierung damals. Der Gerichtshof sei deshalb unzuständig. Die Kammer folgte dieser Auffassung nicht.
Im Auswärtigen Amt wird die deutsche Argumentation von 2021 derzeit nicht bemüht. Schon nach der Entscheidung der Vorverfahrenskammer hatte man sich dort zurückhaltend gegeben. In anderen Ressorts der Bundesregierung sah es in der Vergangenheit schon anders aus. Im Bundesjustizministerium etwa war die Auffassung, dass der IStGH für die palästinensischen Gebiete nicht zuständig sei, in der Vergangenheit noch zu hören gewesen. Am Dienstag wollte man sich dort nicht äußern.