Russlands Arbeitsmigranten nach Anschlag: Ungeliebt, aber benötigt
Nach dem Terroranschlag in der Crocus City Hall, den vier Tadschiken verübt haben sollen, steht Russland vor einem schon bekannten Dilemma. Auf der einen Seite steht der Impuls, Migranten aus Zentralasien pauschal für das Verbrechen in Mithaftung zu nehmen. Auf der anderen Seite braucht die Wirtschaft des Landes die, so das deutsche Lehnwort, „Gastarbajter“. Nach jüngsten Angaben sind dem Anschlag, zu dem sich die Terrormiliz „Islamischer Staat“ bekannt hat, 144 Menschen zum Opfer gefallen, zahlreiche weitere werden noch vermisst. Auf politischer Ebene macht Präsident Wladimir Putin für die Tat die Ukraine und den Westen verantwortlich, die sich radikaler Islamisten bedient hätten. Doch kaum war klar, dass es sich bei den Tatverdächtigen um Tadschiken handelt, gerieten Vertreter des Volkes und andere Zentralasiaten unter Druck.
Über soziale Medien verbreiteten sich Chatnachrichten, in denen Taxifahrten abgesagt werden, weil der Fahrer Tadschike sei. Eigentlich zieht das Taxigeschäft mindestens in Moskau eher Kirgisen an, doch differenziert wird traditionell kaum. Von Protest gegen Migranten ist noch nicht berichtet worden. Den gab es etwa im Januar im sibirischen Jakutien, nachdem ein junger Tadschike mit russischer Staatsangehörigkeit im Streit einen Mann getötet hatte. Doch die Minderheiten sind vorsichtig.
Der Telegram-Kanal „Baza“ berichtete, Oberhäupter tadschikischer Gemeinschaften empföhlen ihren Landsleuten, Massenveranstaltungen zu meiden und abends das Haus nicht zu verlassen. Eine ähnliche Warnung gab es von offizieller usbekischer Seite. Das kirgisische Außenministerium warnte Bürger des Landes gar vor Reisen nach Russland. In sozialen Medien kursieren laut Medienberichten einzelne Boykottaufrufe gegen Tadschiken. Mitarbeiter eines Friseursalons in der Stadt Tejkowo 220 Kilometer nordöstlich von Moskau, in dem einer der vier Terrorverdächtigen eine Zeit lang gearbeitet hatte, berichteten von Hassanrufen und Morddrohungen.
Folterähnlichen Bedigungen ausgesetzt
Aus Sankt Petersburg hieß es am Freitag, Migranten würden massenhaft aufgegriffen und abgeschoben. In anderen Städten begannen Sicherheitskräfte schon bald nach dem Anschlag, Menschen mit „östlichem Äußeren“ zu überprüfen. Beispielsweise in Moskau und dem Umland der Hauptstadt, in Wolgograd, Tula, Kaliningrad und Jekaterinburg fanden Razzien in Hostels, Gemeinschaftsunterkünften, auf Baustellen und in Lagerhäusern statt, wo Migranten unterkommen respektive arbeiten. Gegen viele von ihnen wurden Verfahren wegen Verstößen gegen die Einwanderungsgesetzgebung eröffnet, manche wurden ausgewiesen.
Zentralasiens aufzuheben, um die „nationale Sicherheit zu stärken“, denn „unsere Feinde benutzen die offenen Grenzen“. Bisher brauchen die Migranten kein Visum, müssen nur ein sogenanntes Patent erwerben, um in Russland zu arbeiten. Arbeitgebern, die Migranten ohne eine solche Erlaubnis beschäftigen, droht ein hohes Bußgeld oder ein Tätigkeitsverbot für bis zu 90 Tage. Forderungen, die Visumfreiheit insbesondere für die Länder Zentralasiens zu beenden, kommen seit Jahrzehnten regelmäßig auf – und verpuffen bald wieder. Denn Russland ist auf die vergleichsweise billigen Arbeitskräfte angewiesen, die Tätigkeiten verrichten, die viele Russen nicht ausüben wollen. Etwa im Winter die Dächer von Schnee und Eis zu befreien.
Vor der Pandemie sollen in Russland viereinhalb Millionen Ausländer gearbeitet haben. Jüngst schätzte die Russische Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst diese Zahl für das Jahr 2023 noch auf dreieinhalb Millionen. Einerseits ist der Rubelkurs im Vergleich zu Dollar und Euro stark abgesunken. Andererseits fürchten Zentralasiaten mittlerweile um ihre Sicherheit. Insbesondere nach dem Überfall auf die Ukraine lockte Moskau auch Migranten ohne russische Staatsangehörigkeit nicht nur mit einem vergleichsweise hohen Sold ins Militär, sondern auch mit einer Einbürgerung. Doch wurde rasch klar, dass der Kriegsdienst sehr gefährlich ist. Später wurde berichtet, wie Personen mit Migrationshintergrund, die schon einen russischen Pass hatten, in gezielten Aktionen etwa auf Baustellen von Polizei und Wehrkommissaren Einberufungsbefehle ausgehändigt bekamen.
Insgesamt hat der Krieg in Russland zu einem drastischen Personalmangel geführt. Im Januar klagte mehr als die Hälfte der Industriebetriebe, die für eine Studie befragt worden waren, über Produktionsbeschränkungen aufgrund des „Kaderhungers“. Sie müssen die Löhne erhöhen, um Arbeiter anzuwerben. Gleichzeitig setzen sie auch auf Migranten; nicht mehr nur aus Zentralasien, sondern auch aus Ländern wie Indien oder Nordkorea.
An dem Umstand, dass manche der acht Männer, die nach dem Anschlag schon in Untersuchungshaft genommen worden sind, im Transportgewerbe arbeiteten, als Bus- oder Taxifahrer, werden nun neue Forderungen festgemacht, die Regeln für Migranten in diesem Gewerbe zu verschärfen. Der Unterhausabgeordnete Michail Scheremet von der annektierten ukrainischen Krim schlug gar vor, im Krieg „die Einreise von Migranten zu begrenzen, um die innere Sicherheit zu schützen“. Doch das Wirtschaftsportal „The Bell“ rechnet wegen des Arbeitskräftemangels nicht damit, dass dies wirklich geschieht. Stattdessen, vermutet es, würden den Arbeitgebern künftig wohl bloß weitere bürokratische Maßnahmen auferlegt werden.