US-Wahl 2024: Ranghohe Demokraten wollen Joe Bidens Rückzug
Ginge es nach dem Modell der „Fünf Phasen der Trauer“, befände sich Joe Biden in Phase drei: der des Feilschens und Verhandelns. Phase eins und zwei, das Leugnen eines Problems und Ärger, hat der amerikanische Präsident eineinhalb Wochen nach der desaströsen Fernsehdebatte gegen Donald Trump hinter sich. „Wir sind alle nicht perfekt“, sagte Biden am Sonntag während eines Gottesdienstes in einer schwarzen Kirchengemeinde in Philadelphia. Man wisse nie, was das Schicksal bringe. Doch man müsse zusammenarbeiten, fuhr der Demokrat fort. „Denn wenn wir das tun, sind wir nicht zu stoppen.“
Es war ein Auftritt nach dem Geschmack von Bidens Wahlkampfteam. Kirchgänger aus einer wichtigen Wählergruppe, die zwischendurch „Wir lieben Sie, Präsident Biden“ skandierten, überschwängliches Lob vom Pastor und noch dazu die demonstrative Unterstützung der demokratischen Senatoren John Fetterman und Bob Casey aus Pennsylvania. Doch die Solidaritätsbekundungen auf Bidens Wahlkampftour konnten auch am Sonntag nicht über dessen brenzlige Lage hinwegtäuschen.
Händeschütteln und Schokoladeneis
Während Biden im wichtigen Bundesstaat Pennsylvania Hände schüttelte und über seine Liebe für Schokoladeneis scherzte, sprachen sich in einem Telefonat am Sonntagnachmittag führende Demokraten des Repräsentantenhauses gegen eine weitere Kandidatur des Einundachtzigjährigen aus. Es sei „ziemlich brutal“ gewesen, zitierte der Sender CNN einen Mitarbeiter der Demokraten anschließend. Laut amerikanischen Medien sollen mindestens vier Abgeordnete, alle ranghohe Mitglieder wichtiger Ausschüsse, gefordert haben, dass Biden seine Wiederwahlbemühungen aufgibt. Unter ihnen waren demnach etwa Jerrold Nadler aus New York, der führende Demokrat im Justizausschuss, und Adam Smith aus Washington, ranghöchster Demokrat im Streitkräfteausschuss des Repräsentantenhauses. Es sei darum gegangen, wie man vereint Einfluss auf Biden nehmen könnte, um ihn zu einem Rückzug als Präsidentschaftskandidat zu bewegen. Der Tenor: Es müsse etwas passieren.
Die New York Times berichtete unter Berufung auf Teilnehmer gar, es habe Konsens darüber gegeben, ein neuer Präsidentschaftskandidat sei für einen Sieg gegen Trump unerlässlich. Das bedeutet eine Eskalation der Lage: Bis zur Debatte gegen Trump Ende Juni, in der Biden mehrfach Sätze unbeendet ließ und offenbar nicht in guter Verfassung war, waren Zweifel an seiner geistigen Fitness und Eignung für eine weitere Präsidentschaft nur hinter vorgehaltener Hand geäußert worden.
Das Gespräch am Sonntag war von Minderheitsführer Hakeem Jeffries auch als Gradmesser für die Stimmung innerhalb der demokratischen Fraktion einberufen worden. Über Jeffries sagte Biden kürzlich noch, er sei regelmäßig mit ihm im Gespräch. Bislang hat der Minderheitsführer es jedoch auffällig vermieden, sich offen an die Seite Bidens zu stellen, sagten Teilnehmer im Gespräch am Sonntag. Insgesamt haben nun etwa zwei Dutzend Demokraten dem Präsidenten die Unterstützung als Kandidat entzogen – gut einen Monat vor dem Nominierungsparteitag und vier Monate vor der Präsidentenwahl.
Ein „visionärer Anführer“
Einige Abgeordnete stellten sich nach dem Telefonat am Sonntag jedoch öffentlich an die Seite Bidens. So schrieb Don Beyer aus Virginia später, er unterstütze Biden. Richard Neal, Abgeordneter aus Massachusetts, bezeichnete den Präsidenten als „visionären Anführer“. Auch aus Bidens Wahlkampfteam heißt es beharrlich, er bleibe im Rennen. Dort verweist man auf führende Demokraten aus dem „Black Caucus“ und „Hispanic Caucus“, den Vereinigungen Schwarzer und Latinos in der demokratischen Partei im Kongress, die Biden ihre Unterstützung ausgesprochen haben.
Ob die Kritik an einer abermaligen Kandidatur des Präsidenten noch einmal versiegen kann, könnte sich in dieser Woche entscheiden. Biden, der seinen schwachen Auftritt unter anderem mit Müdigkeit und Erschöpfung erklärte, wird als Gastgeber des Nato-Gipfels in Washington im Rampenlicht stehen. Für Donnerstag, nach drei Gipfeltagen, ist eine seltene Solo-Pressekonferenz des Präsidenten angesetzt. Üblicherweise vermeiden seine Berater derart exponierte Auftritte; es ist die erste Pressekonferenz dieser Art seit November 2022.
Laut den Phasen des Trauer-Modells kommen für den amerikanischen Präsidenten als nächstes Depression und schließlich Akzeptanz. Davon scheint Biden jedoch noch weit entfernt. In einem Brief an die Demokraten im Kongress schrieb er am Montag, er sei „fest entschlossen, im Rennen zu bleiben“. Man habe eine Aufgabe, und die sei es, „Donald Trump zu schlagen“. Dafür müsse die Partei „geeint“ vorangehen.